Franz Grillparzer

Der arme Spielmann

Erz�hlung

In Wien ist der Sonntag nach dem Vollmonde im Monat Juli jedes Jahres samt dem darauf folgenden Tage ein eigentliches Volksfest, wenn je ein Fest diesen Namen verdient hat. Das Volk besucht es und gibt es selbst, und wenn Vornehmere dabei erscheinen, so k�nnen sie es nur in ihrer Eigenschaft als Glieder des Volks. Da ist keine M�glichkeit der Absonderung; wenigstens vor einigen Jahren noch war keine.

An diesem Tage feiert die mit dem Augarten, der Leopoldstadt, dem Prater in ununterbrochener Lustreihe zusammenh�ngende Brigittenau ihre Kirchweihe. Von Brigittenkirchtag zu Brigittenkirchtag z�hlt seine guten Tage das arbeitende Volk. Lange erwartet, erscheint endlich das saturnalische Fest. Da entsteht Aufruhr in der gutm�tig ruhigen Stadt. Eine wogende Menge erf�llt die Stra�en. Ger�usch von Fu�tritten, Gemurmel von Sprechenden, das hie und da ein lauter Ausruf durchzuckt. Der Unterschied der St�nde ist verschwunden, B�rger und Soldat teilt die Bewegung. An den Toren der Stadt w�chst der Drang. Genommen, verloren und wiedergenommen, ist endlich der Ausgang erk�mpft. Aber die Donaubr�cke bietet neue Schwierigkeiten. Auch hier siegreich, ziehen endlich zwei Str�me, die alte Donau und die geschwollnere Woge des Volks, sich kreuzend quer unter- und �bereinander, die Donau ihrem alten Flu�bette nach, der Strom des Volkes, der Eind�mmung der Br�cke entnommen, ein weiter, tosender See, sich ergie�end in alles deckender �berschwemmung. Ein neu Hinzugekommener f�nde die Zeichen bedenklich. Es ist aber der Aufruhr der Freude, die Losgebundenheit der Lust.

Schon zwischen Stadt und Br�cke haben sich Korbwagen aufgestellt f�r die eigentlichen Hierophanten dieses Weihfestes: die Kinder der Dienstbarkeit und der Arbeit. �berf�llt und dennoch im Galopp durchfliegen sie die Menschenmasse, die sich hart vor ihnen �ffnet und hinter ihnen schlie�t, unbesorgt und unverletzt. Denn es ist in Wien ein stillschweigender Bund zwischen Wagen und Menschen: nicht zu �berfahren, selbst im vollen Lauf; und nicht �berfahren werden, auch ohne alle Aufmerksamkeit.[146]

Von Sekunde zu Sekunde wird der Abstand zwischen Wagen und Wagen kleiner. Schon mischen sich einzelne Equipagen der Vornehmeren in den oft unterbrochenen Zug. Die Wagen fliegen nicht mehr. Bis endlich f�nf bis sechs Stunden vor Nacht die einzelnen Pferde- und Kutschen-Atome sich zu einer kompakten Reihe verdichten, die sich selber hemmend und durch Zufahrende aus allen Quergassen gehemmt, das alte Sprichwort: �Besser schlecht gefahren, als zu Fu� gegangen�, offenbar zuschanden macht. Begafft, bedauert, bespottet, sitzen die geputzten Damen in den scheinbar stille stehenden Kutschen. Des immerw�hrenden Anhaltens ungewohnt, b�umt sich der Holsteiner Rappe, als wollte er seinen, durch den ihm vorgehenden Korbwagen gehemmten Weg obenhin �ber diesen hinaus nehmen, was auch die schreiende Weiber- und Kinderbev�lkerung des Plebejer-Fuhrwerks offenbar zu bef�rchten scheint. Der schnell dahinschie�ende Fiaker, zum ersten Male seiner Natur ungetreu, berechnet ingrimmig den Verlust, auf einem Wege drei Stunden zubringen zu m�ssen, den er sonst in f�nf Minuten durchflog. Zank, Geschrei, wechselseitige Ehrenangriffe der Kutscher, mitunter ein Peitschenhieb.

Endlich, wie wenn in dieser Welt jedes noch so hartn�ckige Stehenbleiben doch nur ein unvermerktes Weiterr�cken ist, erscheint auch diesem status quo ein Hoffnungsstrahl. Die ersten B�ume des Augartens und der Brigittenau werden sichtbar. Land! Land! Land! Alle Leiden sind vergessen. Die zu Wagen Gekommenen steigen aus und mischen sich unter die Fu�g�nger, T�ne entfernter Tanzmusik schallen her�ber, vom Jubel der neu Ankommenden beantwortet. Und so fort und immer weiter, bis endlich der breite Hafen der Lust sich auftut und Wald und Wiese, Musik und Tanz, Wein und Schmaus, Schattenspiel und Seilt�nzer, Erleuchtung und Feuerwerk sich zu einem pays de cocagne, einem Eldorado, einem eigentlichen Schlaraffenlande vereinigen, das leider, oder gl�cklicherweise, wie man es nimmt, nur einen und den n�chst darauffolgenden Tag dauert, dann aber verschwindet, wie der Traum einer Sommernacht, und nur in der Erinnerung zur�ckbleibt und allenfalls in der Hoffnung.

Ich vers�ume nicht leicht, diesem Feste beizuwohnen. Als ein leidenschaftlicher Liebhaber der Menschen, vorz�glich des Volkes,[147] so da� mir selbst als dramatischen Dichter der r�ckhaltslose Ausbruch eines �berf�llten Schauspielhauses immer zehnmal interessanter, ja belehrender war, als das zusammengekl�gelte Urteil eines an Leib und Seele verkr�ppelten, von dem Blut ausgesogener Autoren spinnenartig aufgeschwollenen literarischen Matadors; – als ein Liebhaber der Menschen, sage ich, besonders wenn sie in Massen f�r einige Zeit der einzelnen Zwecke vergessen und sich als Teile des Ganzen f�hlen, in dem denn doch zuletzt das G�ttliche liegt – als einem solchen ist mir jedes Volksfest ein eigentliches Seelenfest, eine Wallfahrt, eine Andacht. Wie aus einem aufgerollten, ungeheuren, dem Rahmen des Buches entsprungenen Plutarch, lese ich aus den heitern und heimlich bek�mmerten Gesichtern, dem lebhaften oder gedr�ckten Gange, dem wechselseitigen Benehmen der Familienglieder, den einzelnen halb unwillk�rlichen �u�erungen, mir die Biographien der unber�hmten Menschen zusammen, und wahrlich! man kann die Ber�hmten nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgef�hlt hat. Von dem Wortwechsel weinerhitzter Karrenschieber spinnt sich ein unsichtbarer, aber ununterbrochener Faden bis zum Zwist der G�tters�hne, und in der Jungen Magd, die, halb wider Willen, dem dr�ngenden Liebhaber seitab vom Gew�hl der Tanzenden folgt, liegen als Embryo die Julien, die Didos und die Medeen.

Auch vor zwei Jahren hatte ich mich, wie gew�hnlich, den lustgierigen Kirchweihg�sten als Fu�g�nger mit angeschlossen. Schon waren die Hauptschwierigkeiten der Wanderung �berwunden, und ich befand mich bereits am Ende des Augartens, die ersehnte Brigittenau hart vor mir liegend. Hier ist nun noch ein, wenngleich der letzte Kampf zu bestehen. Ein schmaler Damm, zwischen undurchdringlichen Befriedungen hindurchlaufend, bildet die einzige Verbindung der beiden Lustorte, deren gemeinschaftliche Grenze ein in der Mitte befindliches h�lzernes Gittertor bezeichnet. An gew�hnlichen Tagen und f�r gew�hnliche Spazierg�nger bietet dieser Verbindungsweg �berfl�ssigen Raum; am Kirchweihfeste aber w�rde seine Breite, auch vierfach genommen, noch immer zu schmal sein f�r die endlose Menge, die, heftig nachdr�ngend und von R�ckkehrenden im entgegengesetzten Sinne durchkreuzt, nur durch die allseitige[148] Gutm�tigkeit der Lustwandelnden sich am Ende doch leidlich zurecht findet.

Ich hatte mich mit dem Zug der Menge hingegeben und befand mich in der Mitte des Dammes, bereits auf klassischem Boden, nur leider zu stets erneutem Stillestehen, Ausbeugen und Abwarten gen�tigt. Da war denn Zeit genug, das seitw�rts am Wege Befindliche zu betrachten. Damit es n�mlich der genu�lechzenden Menge nicht an einem Vorschmack der zu erwartenden Seligkeit mangle, hatten sich links am Abhang der erh�hten Dammstra�e einzelne Musiker aufgestellt, die, wahrscheinlich die gro�e Konkurrenz scheuend, hier an den Propyl�en die Erstlinge der noch unabgen�tzten Freigebigkeit einernten wollten. Eine Harfenspielerin mit widerlich starrenden Augen. Ein alter invalider Stelzfu�, der auf einem entsetzlichen, offenbar von ihm selbst verfertigten Instrumente, halb Hackbrett und halb Drehorgel, die Schmerzen seiner Verwundung dem allgemeinen Mitleid auf eine analoge Weise empfindbar machen wollte. Ein lahmer, verwachsener Knabe, er und seine Violine einen einzigen ununterscheidbaren Kn�uel bildend, der endlos fortrollende Walzer mit all der hektischen Heftigkeit seiner verbildeten Brust her abspielte. Endlich – und er zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich – ein alter, leicht siebzigj�hriger Mann in einem faden scheinigen, aber nicht unreinlichen Molton�berrock mit l�chelnder, sich selbst Beifall gebender Miene. Barh�uptig und kahlk�pfig stand er da, nach Art dieser Leute, den Hut als Sammelb�chse vor sich auf dem Boden, und so bearbeitete er eine alte vielzersprungene Violine, wobei er den Takt nicht nur durch Aufheben und Niedersetzen des Fu�es, sondern zugleich durch �bereinstimmende Bewegung des ganzen geb�ckten K�rpers markierte. Aber all diese Bem�hung, Einheit in seine Leistung zu bringen, war fruchtlos, denn was er spielte, schien eine unzusammenh�ngende Folge von T�nen ohne Zeitma� und Melodie. Dabei war er ganz in sein Werk vertieft: die Lippen zuckten, die Augen waren starr auf das vor ihm befindliche Notenblatt gerichtet – ja wahrhaftig Notenblatt! Denn indes alle andern, ungleich mehr zu Dank spielenden Musiker sich auf ihr Ged�chtnis verlie�en, hatte der alte Mann mitten in dem Gew�hle ein kleines, leicht tragbares Pult vor sich hingestellt mit schmutzigen, zergriffenen Noten,[149] die das in sch�nster Ordnung enthalten mochten, was er so au�er allem Zusammenhange zu h�ren gab. Gerade das Ungew�hnliche dieser Ausr�stung hatte meine Aufmerksamkeit auf ihn gezogen, so wie es auch die Heiterkeit des vor�berwogenden Haufens erregte, der ihn auslachte und den zum Sammeln hingestellten Hut des alten Mannes leer lie�, indes das �brige Orchester ganze Kupferminen einsackte. Ich war, um das Original ungest�rt zu betrachten, in einiger Entfernung auf den Seitenabhang des Dammes getreten. Er spielte noch eine Weile fort. Endlich hielt er ein, blickte, wie aus einer langen Abwesenheit zu sich gekommen, nach dem Firmament, das schon die Spuren des nahenden Abends zu zeigen anfing; darauf abw�rts in seinen Hut, fand ihn leer, setzte ihn mit ungetr�bter Heiterkeit auf, steckte den Geigenbogen zwischen die Saiten; �sunt certi denique fines�, sagte er, ergriff sein Notenpult und arbeitete sich m�hsam durch die dem Feste zustr�mende Menge in entgegengesetzter Richtung, als einer der heimkehrt.

Das ganze Wesen des alten Mannes war eigentlich wie gemacht, um meinen anthropologischen Hei�hunger aufs �u�erste zu reizen. Die d�rftige und doch edle Gestalt, seine unbesiegbare Heiterkeit, so viel Kunsteifer bei so viel Unbeholfenheit; da� er gerade zu einer Zeit heimkehrte, wo f�r andere seinesgleichen erst die eigentliche Ernte anging; endlich die wenigen, aber mit der richtigsten Betonung, mit v�lliger Gel�ufigkeit gesprochenen lateinischen Worte. Der Mann hatte also eine sorgf�ltigere Erziehung genossen, sich Kenntnisse eigen gemacht, und nun – ein Bettelmusikant! Ich zitterte vor Begierde nach dem Zusammenhange.

Aber schon befand sich ein dichter Menschenwall zwischen mir und ihm. Klein, wie er war, und durch das Notenpult in seiner Hand nach allen Seiten hin st�rend, schob ihn einer dem andern zu, und schon hatte ihn das Ausgangsgitter aufgenommen, indes ich noch in der Mitte des Dammes mit der entgegenstr�menden Menschenwoge k�mpfte. So entschwand er mir, und als ich endlich selbst ins ruhige Freie gelangte, war nach allen Seiten weit und breit kein Spielmann mehr zu sehen.

Das verfehlte Abenteuer hatte mir die Lust an dem Volksfest genommen. Ich durchstrich den Augarten nach allen Richtungen und beschlo� endlich, nach Hause zu kehren.[150]

In die N�he des kleinen T�rchens gekommen, das aus dem Augarten nach der Taborstra�e f�hrt, h�rte ich pl�tzlich den bekannten Ton der alten Violine wieder. Ich verdoppelte meine Schritte, und siehe da! der Gegenstand meiner Neugier stand, aus Leibeskr�ften spielend, im Kreise einiger Knaben, die ungeduldig einen Walzer von ihm verlangten. �Einen Walzer spiel!� riefen sie; �einen Walzer, h�rst du nicht?� Der Alte geigte fort, scheinbar ohne auf sie zu achten, bis ihn die kleine Zuh�rerschar schm�hend und spottend verlie�, sich um einen Leiermann sammelnd, der seine Drehorgel in der N�he aufgestellt hatte.

�Sie wollen nicht tanzen�, sagte wie betr�bt der alte Mann, seine Musikger�te zusammenlesend. Ich war ganz nahe zu ihm getreten. �Die Kinder kennen eben keinen andern Tanz als den Walzer�, sagte ich. �Ich spielte einen Walzer�, versetzte er, mit dem Geigenbogen den Ort des soeben gespielten St�ckes auf seinem Notenblatte bezeichnend.

�Man mu� derlei auch f�hren, der Menge wegen. Aber die Kinder haben kein Ohr�, sagte er, indem er wehm�tig den Kopf sch�ttelte. – �Lassen Sie mich wenigstens ihren Undank wieder gut machen�, sprach ich, ein Silberst�ck aus der Tasche ziehend und ihm hinreichend. – �Bitte! bitte!� rief der alte Mann, wobei er mit den H�nden �ngstlich abwehrende Bewegungen machte, �in den Hut! in den Hut!� – Ich legte das Geldst�ck in den vor ihm stehenden Hut, aus dem es unmittelbar darauf der Alte herausnahm und ganz zufrieden einsteckte, �das hei�t einmal mit reichem Gewinn nach Hause gehen�, sagte er schmunzelnd. �Eben recht�, sprach ich, �erinnern Sie mich auf einen Umstand, der schon fr�her meine Neugier rege machte! Ihre heutige Einnahme scheint nicht die beste gewesen zu sein, und doch entfernen Sie sich in einem Augenblicke, wo eben die eigentliche Ernte angeht. Das Fest dauert, wissen Sie wohl, die ganze Nacht, und Sie k�nnten da leicht mehr gewinnen als an acht gew�hnlichen Tagen. Wie soll ich mir das erkl�ren?�

�Wie Sie sich das erkl�ren sollen?� versetzte der Alte. �Verzeihen Sie, ich wei� nicht, wer Sie sind, aber Sie m�ssen ein wohlt�tiger Herr sein und ein Freund der Musik�, dabei zog er das Silberst�ck noch einmal aus der Tasche und dr�ckte es zwischen seine gegen die Brust gehobenen H�nde. �Ich will Ihnen daher nur die Ursachen[151] angeben, obgleich ich oft deshalb verlacht worden bin. Erstens war ich nie ein Nachtschw�rmer und halte es auch nicht f�r recht, andere durch Spiel und Gesang zu einem solchen widerlichen Vergehen anzureizen, zweitens mu� sich der Mensch in allen Dingen eine gewisse Ordnung festsetzen, sonst ger�t er ins Wilde und Unaufhaltsame. Drittens endlich – Herr! ich spiele den ganzen Tag f�r die l�rmenden Leute und gewinne kaum k�rglich Brot dabei; aber der Abend geh�rt mir und meiner armen Kunst.�

�Abends halte ich mich zu Hause und� – dabei ward seine Rede immer leiser, R�te �berzog sein Gesicht, sein Auge suchte den Boden – �da spiele ich denn aus der Einbildung, so f�r mich ohne Noten. Phantasieren, glaub ich, hei�t es in den Musikb�chern.�

Wir waren beide ganz still geworden. Er, aus Besch�mung �ber das verratene Geheimnis seines Innern, ich, voll Erstaunen, den Mann von den h�chsten Stufen der Kunst sprechen zu h�ren, der nicht imstande war, den leichtesten Walzer fa�bar wiederzugeben. Er bereitete sich indes zum Fortgehen.

�Wo wohnen Sie?� sagte ich. �Ich m�chte wohl einmal Ihren einsamen �bungen beiwohnen.� – �Oh�, versetzte er fast flehend, �Sie wissen wohl, das Gebet geh�rt ins K�mmerlein.� – �So will ich Sie denn einmal am Tage besuchen�, sagte ich. – �Den Tag �ber�, erwiderte er, �gehe ich meinem Unterhalt bei den Leuten nach.� – �Also des Morgens denn.� – �Sieht es doch beinahe aus�, sagte der Alte l�chelnd, �als ob Sie, verehrter Herr, der Beschenkte w�ren, und ich, wenn es mir erlaubt ist zu sagen, der Wohlt�ter, so freundlich sind Sie, und so widerw�rtig ziehe ich mich zur�ck. Ihr vornehmer Besuch wird meiner Wohnung immer eine Ehre sein; nur b�te ich, da� Sie den Tag Ihrer Dahinkunft mir gro�g�nstig im voraus bestimmten, damit weder Sie durch Ungeh�rigkeit aufgehalten, noch ich gen�tigt werde, ein zur Zeit etwa begonnenes Gesch�ft unziemlich zu unterbrechen. Mein Morgen n�mlich hat auch seine Bestimmung. Ich halte es jedenfalls f�r meine Pflicht, meinen G�nnern und Wohlt�tern f�r ihr Geschenk eine nicht ganz unw�rdige Gegengabe darzureichen. Ich will kein Bettler sein, verehrter Herr. Ich wei� wohl, da� die �brigen �ffentlichen Musikleute sich damit begn�gen, einige auswendig gelernte Gassenhauer, Deutschwalzer, ja wohl gar Melodien von[152] unartigen Liedern, immer wieder von denselben anfangend, fort und fort herab zu spielen, so da� man ihnen gibt, um ihrer los zu werden, oder weil ihr Spiel die Erinnerung genossener Tanzfreuden oder sonst unordentlicher Erg�tzlichkeiten wieder lebendig macht. Daher spielen sie auch aus dem Ged�chtnis und greifen falsch mitunter, ja h�ufig. Von mir aber sei fern zu betr�gen. Ich habe deshalb, teils weil mein Ged�chtnis �berhaupt nicht das beste ist, teils weil es f�r jeden schwierig sein d�rfte, verwickelte Zusammensetzungen geachteter Musikverfasser Note f�r Note bei sich zu behalten, diese Hefte mir selbst ins Reine geschrieben.� Er zeigte dabei durchbl�tternd auf sein Musikbuch, in dem ich zu meinem Entsetzen mit sorgf�ltiger, aber widerlich steifer Schrift ungeheuer schwierige Kompositionen alter ber�hmter Meister, ganz schwarz von Passagen und Doppelgriffen erblickte. Und derlei spielte der alte Mann mit seinen ungelenken Fingern! �Indem ich nun diese St�cke spiele�, fuhr er fort, �bezeige ich meine Verehrung den nach Stand und W�rden geachteten, l�ngst nicht mehr lebenden Meistern und Verfassern, tue mir selbst genug und lebe der angenehmen Hoffnung, da� die mir mildest gereichte Gabe nicht ohne Entgelt bleibt durch Veredlung des Geschmackes und Herzens der ohnehin von so vielen Seiten gest�rten und irregeleiteten Zuh�rerschaft. Da derlei aber, auf da� ich bei meiner Rede bleibe� – und dabei �berzog ein selbstgef�lliges L�cheln seine Z�ge – �da derlei aber einge�bt sein will, sind meine Morgenstunden ausschlie�lich diesem Exerzitium bestimmt. Die drei ersten Stunden des Tages der �bung, die Mitte dem Broterwerb, und der Abend mir und dem lieben Gott, das hei�t nicht unehrlich geteilt�, sagte er, und dabei gl�nzten seine Augen wie feucht, er l�chelte aber.

�Gut denn�, sagte ich, �so werde ich Sie einmal morgens �berraschen. Wo wohnen Sie?� Er nannte mir die G�rtnergasse. – �Hausnummer?� – �Nummer 34 im ersten Stocke.� – �In der Tat!� rief ich, �im Stockwerke der Vornehmen?� – �Das Haus�, sagte er, �hat zwar eigentlich nur ein Erdgescho�, es ist aber oben neben der Bodenkammer noch ein kleines Zimmer, das bewohne ich gemeinschaftlich mit zwei Handwerksgesellen�. – �Ein Zimmer zu dreien?� – �Es ist abgeteilt�, sagte er, �und ich habe mein eigenes Bette�.[153]

�Es wird sp�t�, sprach ich, �und Sie wollen nach Hause. Auf Wiedersehen denn!� und dabei fuhr ich in die Tasche, um das fr�her gereichte, gar zu kleine Geldgeschenk allenfalls zu verdoppeln. Er aber hatte mit der einen Hand das Notenpult, mit der andern seine Violine angefa�t und rief hastig: �Was ich devotest verbitten mu�. Das Honorarium f�r mein Spiel ist mir bereits in F�lle zuteil geworden, eines andern Verdienstes aber bin ich mir zur Zeit nicht bewu�t.� Dabei machte er mir mit einer Abart vornehmer Leichtigkeit einen ziemlich linkischen Kratzfu� und entfernte sich, so schnell ihn seine alten Beine trugen.

Ich hatte, wie gesagt, die Lust verloren, dem Volksfeste f�r diesen Tag l�nger beizuwohnen, ich ging daher heimw�rts, den Weg nach der Leopoldstadt einschlagend, und, von Staub und Hitze ersch�pft, trat ich in einen der dortigen vielen Wirtsg�rten, die, an gew�hnlichen Tagen �berf�llt, heute ihre ganze Kundschaft der Brigittenau abgegeben hatten. Die Stille des Ortes, im Abstich der l�rmenden Volksmenge, tat mir wohl, und mich verschiedenen Gedanken �berlassend, an denen der alte Spielmann nicht den letzten Anteil hatte, war es v�llig Nacht geworden, als ich endlich des Nachhausegehens gedachte, den Betrag meiner Rechnung auf den Tisch legte und der Stadt zuschritt.

In der G�rtnergasse, hatte der alte Mann gesagt, wohne er. �Ist hier in der N�he eine G�rtnergasse?� fragte ich einen kleinen Jungen, der �ber den Weg lief. �Dort, Herr!� versetzte er, indem er auf eine Querstra�e hinwies, die, von der H�usermasse der Vorstadt sich entfernend, gegen das freie Feld hinaus lief. Ich folgte der Richtung. Die Stra�e bestand aus zerstreuten einzelnen H�usern, die, zwischen gro�en K�cheng�rten gelegen, die Besch�ftigung der Bewohner und den Ursprung des Namens G�rtnergasse augenf�llig darlegten. In welcher dieser elenden H�tten wohl mein Original wohnen mochte? Ich hatte die Hausnummer gl�cklich vergessen, auch war in der Dunkelheit an das Erkennen irgend einer Bezeichnung kaum zu denken. Da schritt, auf mich zukommend, ein mit K�chengew�chsen schwer beladener Mann an mir vor�ber. �Kratzt der Alte einmal wieder�, brummte er, �und st�rt die ordentlichen Leute in ihrer Nachtruhe.� Zugleich, wie ich vorw�rts ging, schlug der leise, langgehaltene Ton einer Violine an mein Ohr, der aus dem offen stehenden Bodenfenster[154] eines wenig entfernten �rmlichen Hauses zu kommen schien, das niedrig und ohne Stockwerk wie die �brigen sich durch dieses in der Umgrenzung des Daches liegende Giebelfenster vor den andern auszeichnete. Ich stand stille. Ein leiser, aber bestimmt gegriffener Ton schwoll bis zur Heftigkeit, senkte sich, verklang um gleich darauf wieder bis zum lautesten Gellen emporzusteigen und zwar immer derselbe Ton mit einer Art genu�reichem Daraufberuhen wiederholt. Endlich kam ein Intervall. Es war die Quarte. Hatte der Spieler sich vorher an dem Klange des einzelnen Tones geweidet, so war nun das gleichsam woll�stige Schmecken dieses harmonischen Verh�ltnisses noch ungleich f�hlbarer. Sprungweise gegriffen, zugleich gestrichen, durch die dazwischen liegende Stufenreihe h�chst holperig verbunden, die Terz markiert, wieder holt. Die Quinte daran gef�gt, einmal mit zitterndem Klang, wie ein stilles Weinen, ausgehalten, verhallend dann in wirbelnder Schnelligkeit ewig wiederholt, immer dieselben Verh�ltnisse, die n�mlichen T�ne. – Und das nannte der alte Mann Phantasieren! – Obgleich es im Grunde allerdings ein Phantasieren war, f�r den Spieler n�mlich, nur nicht auch f�r den H�rer.

Ich wei� nicht, wie lange das gedauert haben mochte und wie arg es geworden war, als pl�tzlich die T�re des Hauses aufging ein Mann, nur mit dem Hemde und lose eingekn�pftem Beinkleide angetan, von der Schwelle bis in die Mitte der Stra�e trat und zu dem Giebelfenster emporrief: �Soll das heute einmal wieder gar kein Ende nehmen?� Der Ton der Stimme war dabei unwillig, aber nicht hart oder beleidigend. Die Violine verstummte, ehe die Rede noch zu Ende war. Der Mann ging ins Haus zur�ck, das Giebelfenster schlo� sich, und bald herrschte eine durch nichts unterbrochene Totenstille um mich her. Ich trat, m�hsam in den mir unbekannten Gassen mich zurechtfindend, den Heimweg an, wobei ich auch phantasierte, aber niemand st�rend, f�r mich im Kopfe.

Die Morgenstunden haben f�r mich immer einen eigenen Wert gehabt. Es ist, als ob es mir Bed�rfnis w�re, durch die Besch�ftigung mit etwas Erhebendem, Bedeutendem in den ersten Stunden des Tages mir den Rest desselben gewisserma�en zu heiligen. Ich kann mich daher nur schwer entschlie�en, am fr�hen[155] Morgen mein Zimmer zu verlassen, und wenn ich ohne vollg�ltige Ursache mich einmal dazu n�tige, so habe ich f�r den �brigen Tag nur die Wahl zwischen gedankenloser Zerstreuung oder selbstqu�lerischem Tr�bsinn. So kam es, da� ich durch einige Tage den Besuch bei dem alten Manne, der verabredeterma�en in den Morgenstunden stattfinden sollte, verschob. Endlich ward die Ungeduld meiner Herr, und ich ging. Die G�rtnergasse war leicht gefunden, ebenso das Haus. Die T�ne der Violine lie�en sich auch diesmal h�ren, aber durch das geschlossene Fenster bis zum Ununterscheidbaren ged�mpft. Ich trat ins Haus. Eine vor Erstaunen halb sprachlose G�rtnersfrau wies mich eine Bodentreppe hinauf. Ich stand vor einer niedern und halb schlie�enden T�re, pochte, erhielt keine Antwort, dr�ckte endlich die Klinke und trat ein.

Ich befand mich in einer ziemlich ger�umigen, sonst aber h�chst elenden Kammer, deren W�nde von allen Seiten den Umrissen des spitz zulaufenden Daches folgten. Hart neben der T�re ein schmutziges, widerlich verst�rtes Bette, von allen Zutaten der Unordentlichkeit umgeben; mir gegen�ber, hart neben dem schmalen Fenster eine zweite Lagerst�tte, d�rftig, aber reinlich, und h�chst sorgf�ltig gebettet und bedeckt. Am Fenster ein kleines Tischchen mit Notenpapier und Schreibger�te, im Fenster ein paar Blument�pfe. Die Mitte des Zimmers von Wand zu Wand war am Boden mit einem dicken Kreidestriche bezeichnet, und man kann sich kaum einen grellern Abstich von Schmutz und Reinlichkeit denken, als diesseits und jenseits der gezogenen Linie, dieses �quators einer Welt im Kleinen, herrschte.

Hart an dem Gleicher hatte der alte Mann sein Notenpult hingestellt und stand, v�llig und sorgf�ltig gekleidet, davor und exerzierte. Es ist schon bis zum �belklang so viel von den Mi�kl�ngen meines und, ich f�rchte beinahe, nur meines Lieblings die Rede gewesen, da� ich den Leser mit der Beschreibung dieses h�llischen Konzertes verschonen will. Da die �bung gr��tenteils aus Passagen bestand, so war an ein Erkennen der gespielten St�cke nicht zu denken, was �brigens auch sonst nicht leicht gewesen sein m�chte. Einige Zeit Zuh�rens lie� mich endlich den Faden durch dieses Labyrinth erkennen, gleichsam die Methode in der Tollheit. Der Alte geno�, indem er spielte. Seine Auffassung[156] unterschied hierbei aber schlechthin nur zweierlei, den Wohlklang und den �belklang, von denen der erstere ihn erfreute ja entz�ckte, indes er dem letztern, auch dem harmonisch begr�ndeten, nach M�glichkeit aus dem Wege ging. Statt nun in einem Musikst�cke nach Sinn und Rhythmus zu betonen, hob er heraus, verl�ngerte er die dem Geh�r wohltuenden Noten und Intervalle, ja nahm keinen Anstand, sie willk�rlich zu wiederholen, wobei sein Gesicht oft geradezu den Ausdruck der Verz�ckung annahm. Da er nun zugleich die Dissonanzen so kurz als m�glich abtat, �berdies die f�r ihn zu schweren Passagen, von denen er aus Gewissenhaftigkeit nicht eine Note fallen lie�, in einem gegen das Ganze viel zu langsamen Zeitma� vortrug, so kann man sich wohl leicht eine Idee von der Verwirrung machen, die daraus hervorging. Mir ward es nachgerade selbst zu viel. Um ihn aus seiner Abwesenheit zur�ckzubringen, lie� ich absichtlich den Hut fallen, nachdem ich mehrere Mittel schon fruchtlos versucht hatte. Der alte Mann fuhr zusammen, seine Knie zitterten, kaum konnte er die zum Boden gesenkte Violine halten. Ich trat hinzu. �Ah, Sie sinds, gn�diger Herr!� sagte er, gleichsam zu sich selbst kommend. �Ich hatte nicht auf Erf�llung Ihres hohen Versprechens gerechnet.� Er n�tigte mich zu sitzen, r�umte auf, legte hin, sah einigemal verlegen im Zimmer herum, ergriff dann pl�tzlich einen auf einem Tische neben der Stubent�r stehenden Teller und ging mit demselben zu jener hinaus. Ich h�rte ihn drau�en mit der G�rtnersfrau sprechen. Bald darauf kam er wieder verlegen zur T�re herein, wobei er den Teller hinter dem R�cken verbarg und heimlich wieder hinstellte. Er hatte offenbar Obst verlangt, um mich zu bewirten, es aber nicht erhalten k�nnen. �Sie wohnen hier recht h�bsch�, sagte ich, um seiner Verlegenheit ein Ende zu machen. �Die Unordnung ist verwiesen. Sie nimmt ihren R�ckzug durch die T�re, wenn sie auch derzeit noch nicht �ber die Schwelle ist. – Meine Wohnung reicht nur bis zu dem Striche�, sagte der Alte, wobei er auf die Kreidelinie in der Mitte des Zimmers zeigte. �Dort dr�ben wohnen zwei Handwerksgesellen.� – �Und respektieren diese Ihre Bezeichnung?� – �Sie nicht, aber ich�, sagte er. �Nur die T�re ist gemeinschaftlich.� – �Und werden Sie nicht gest�rt von Ihrer Nachbarschaft?� – �Kaum�, meinte er. �Sie kommen des Nachts[157] sp�t nach Hause, und wenn sie mich da auch ein wenig im Bette aufschrecken, so ist daf�r die Lust des Wiedereinschlafens um so gr��er. Des Morgens aber wecke ich sie, wenn ich mein Zimmer in Ordnung bringe. Da schelten sie wohl ein wenig und gehen.�

Ich hatte ihn w�hrend dessen betrachtet. Er war h�chst reinlich gekleidet, die Gestalt gut genug f�r seine Jahre, nur die Beine etwas zu kurz. Hand und Fu� von auffallender Zartheit. – �Sie sehen mich an�, sagte er, �und haben dabei Ihre Gedanken?� – �Da� ich nach Ihrer Geschichte l�stern bin�, versetzte ich – �Geschichte?� wiederholte er. �Ich habe keine Geschichte. Heute wie gestern, und morgen wie heute. �bermorgen freilich und weiter hinaus, wer kann das wissen? Doch Gott wird sorgen, der wei� es.� – �Ihr jetziges Leben mag wohl einf�rmig genug sein�, fahr ich fort; �aber Ihre fr�heren Schicksale – Wie es sich f�gte� – �Da� ich unter die Musikleute kam?� fiel er in die Pause ein, die ich unwillk�rlich gemacht hatte. Ich erz�hlte ihm nun, wie er mir beim ersten Anblicke aufgefallen; den Eindruck, den die von ihm gesprochenen lateinischen Worte auf mich gemacht h�tten. �Lateinisch�, t�nte er nach. �Lateinisch? das habe ich freilich auch einmal gelernt oder vielmehr h�tte es lernen sollen und k�nnen. Loqueris latine?� wandte er sich gegen mich, �aber ich k�nnte es nicht fortsetzen. Es ist gar zu lange her. Das also nennen Sie meine Geschichte? Wie es kam? – Ja so! da ist denn freilich allerlei geschehen; nichts Besonderes, aber doch allerlei. M�chte ich mirs doch selbst einmal wieder erz�hlen. Ob ichs noch gar nicht vergessen habe. Es ist noch fr�h am Morgen�, fuhr er fort, wobei er in die Uhrtasche griff, in der sich freilich keine Uhr befand. Ich zog die meine, es war kaum neun Uhr. – �Wir haben Zeit, und fast kommt mich die Lust zu schwatzen an.� Er war w�hrend des Letzten zusehends ungezwungener geworden. Seine Gestalt verl�ngerte sich. Er nahm mir ohne zu gro�e Umst�nde den Hut aus der Hand und legte ihn aufs Bette; schlug sitzend ein Bein �ber das andere und nahm �berhaupt die Lage eines mit Bequemlichkeit Erz�hlenden an.

�Sie haben� – hob er an – �ohne Zweifel von dem Hofrate geh�rt?� Hier nannte er den Namen eines Staatsmannes, der in der zweiten H�lfte des vorigen Jahrhunderts unter dem bescheidenen Titel eines Bureauchefs einen ungeheuren, beinahe Minister-�hnlichen[158] Einflu� ausge�bt hatte. Ich bejahte meine Kenntnis des Mannes. – �Er war mein Vater�, fuhr er fort. – Sein Vater? des alten Spielmanns? des Bettlers? Der Einflu�reiche, der M�chtige, sein Vater? Der Alte schien mein Erstaunen nicht zu bemerken, sondern spann, sichtbar vergn�gt, den Faden seiner Erz�hlung weiter. �Ich war der Mittlere von drei Br�dern, die in Staatsdiensten hoch hinauf kamen, nun aber schon beide tot sind; ich allein lebe noch�, sagte er und zupfte dabei an seinen fadenscheinigen Beinkleidern, mit niedergeschlagenen Augen einzelne Federchen davon herablesend. �Mein Vater war ehrgeizig und heftig. Meine Br�der taten ihm genug. Mich nannte man einen langsamen Kopf; und ich war langsam. Wenn ich mich recht erinnere�, sprach er weiter, und dabei senkte er, seitw�rts gewandt, wie in eine weite Ferne hinausblickend, den Kopf gegen die unterst�tzende linke Hand – �wenn ich mich recht erinnere, so w�re ich wohl imstande gewesen, allerlei zu erlernen, wenn man mir nur Zeit und Ordnung geg�nnt h�tte. Meine Br�der sprangen wie Gemsen von Spitze zu Spitze in den Lehrgegenst�nden herum, ich konnte aber durchaus nichts hinter mir lassen, und wenn mir ein einziges Wort fehlte, mu�te ich von vorne anfangen. So ward ich denn immer gedr�ngt. Das Neue sollte auf den Platz, den das Alte noch nicht verlassen hatte, und ich begann stockisch zu werden. So hatten sie mir die Musik, die jetzt die Freude und zugleich der Stab meines Lebens ist, geradezu verha�t gemacht. Wenn ich abends im Zwielicht die Violine ergriff, um mich nach meiner Art ohne Noten zu vergn�gen, nahmen sie mir das Instrument und sagten, das verdirbt die Applikatur, klagten �ber Ohrfolter und verwiesen mich auf die Lehrstunde, wo die Folter f�r mich anging. Ich habe zeitlebens nichts und niemand so geha�t, wie ich damals die Geige ha�te.

Mein Vater, aufs �u�erste unzufrieden, schalt mich h�ufig und drohte, mich zu einem Handwerke zu geben. Ich wagte nicht zu sagen, wie gl�cklich mich das gemacht h�tte. Ein Drechsler oder Schriftsetzer w�re ich gar zu gerne gewesen. Er h�tte es ja aber doch nicht zugelassen, aus Stolz. Endlich gab eine �ffentliche Schulpr�fung, der man, um ihn zu beg�tigen, meinen Vater beizuwohnen beredet hatte, den Ausschlag. Ein unredlicher Lehrer bestimmte im voraus, was er mich fragen werde, und so ging[159] alles vor trefflich. Endlich aber fehlte mir, es waren auswendig zusagende Verse des Horaz – ein Wort. Mein Lehrer, der kopfnickend und meinen Vater anl�chelnd zugeh�rt hatte, kam meinem Stocken zu Hilfe und fl�sterte es mir zu. Ich aber, der das Wort in meinem Innern und im Zusammenhange mit dem �brigen suchte, h�rte ihn nicht. Er wiederholte es mehrere Male, umsonst. Endlich verlor mein Vater die Geduld. Cachinnum! (so hie� das Wort), schrie er mir donnernd zu. Nun wars geschehen. Wu�te ich das eine, so hatte ich daf�r das �brige vergessen. Alle M�he, mich auf die rechte Bahn zu bringen, war verloren. Ich mu�te mit Schande aufstehen, und als ich, der Gewohnheit nach, hinging, meinem Vater die Hand zu k�ssen, stie� er mich zur�ck, erhob sich, machte der Versammlung eine kurze Verbeugung und ging. Ce gueux schalt er mich, was ich damals nicht war, aber jetzt bin. Die Eltern prophezeien, wenn sie reden! �brigens war mein Vater ein guter Mann. Nur heftig und ehrgeizig.

Von diesem Tage an sprach er kein Wort mehr mit mir. Seine Befehle kamen mir durch die Hausgenossen zu. So k�ndigte man mir gleich des n�chsten Tages an, da� es mit meinem Studium ein Ende habe. Ich erschrak heftig, weil ich wu�te, wie bitter es meinen Vater kr�nken mu�te. Ich tat den ganzen Tag nichts, als weinen und dazwischen jene lateinischen Verse rezitieren, die ich nun aufs Und wu�te, mit den vorhergehenden und nachfolgenden dazu. Ich versprach, durch Flei� den Mangel an Talent zu ersetzen, wenn man mich noch ferner die Schule besuchen lie�e, mein Vater nahm aber nie einen Entschlu� zur�ck.

Eine Weile blieb ich nun unbesch�ftigt im v�terlichen Hause. Endlich tat man mich versuchsweise zu einer Rechenbeh�rde. Rechnen war aber nie meine St�rke gewesen. Den Antrag, ins Milit�r einzutreten, wies ich mit Abscheu zur�ck. Ich kann noch jetzt keine Uniform ohne innerlichen Schauder ansehen. – Da� man werte Angeh�rige allenfalls auch mit Lebensgefahr sch�tzt, ist wohl gut und begreiflich; aber Blutvergie�en und Verst�mmlung als Stand, als Besch�ftigung. Nein! Nein! Nein!� Und dabei fuhr er mit beiden H�nden �ber die Arme, als f�hlte er stechend eigene und fremde Wunden.

�Ich kam nun in die Kanzlei unter die Abschreiber. Da war ich recht an meinem Platze. Ich hatte immer das Schreiben mit Lust[160] getrieben, und noch jetzt wei� ich mir keine angenehmere Unterhaltung, als mit guter Tinte auf gutem Papier Haar- und Schattenstriche aneinander zu f�gen zu Worten oder auch nur zu Buchstaben. Musiknoten sind nun gar �beraus sch�n. Damals dachte ich aber noch an keine Musik.

Ich war flei�ig, nur aber zu �ngstlich. Ein unrichtiges Unterscheidungszeichen, ein ausgelassenes Wort im Konzepte, wenn es sich auch aus dem Sinne erg�nzen lie�, machte mir bittere Stunden. Im Zweifel, ob ich mich genau ans Original halten oder aus Eigenem beisetzen sollte, verging die Zeit angstvoll, und ich kam in den Ruf, nachl�ssig zu sein, indes ich mich im Dienst abgequ�lt wie keiner. So brachte ich ein paar Jahre zu, und zwar ohne Gehalt, da, als die Reihe der Bef�rderung an mich kam, mein Vater im Rate einem andern seine Stimme gab und die �brigen ihm zufielen aus Ehrfurcht.

Um diese Zeit – Sieh nur�, unterbrach er sich, �es gibt denn doch eine Art Geschichte. Erz�hlen wir die Geschichte! Um diese Zeit ereigneten sich zwei Begebenheiten: die traurigste und die freudigste meines Lebens. Meine Entfernung aus dem v�terlichen Hause n�mlich und das Wiederkehren zur holden Tonkunst, zu meiner Violine, die mir treu geblieben ist bis auf diesen Tag.

Ich lebte in dem Hause meines Vaters, unbeachtet von den Hausgenossen, in einem Hinterst�bchen, das in den Nachbars-Hof hinausging Anfangs a� ich am Familientische, wo niemand ein Wort an mich richtete. Als aber meine Br�der ausw�rts bef�rdert wurden und mein Vater beinahe t�glich zu Gast geladen war die Mutter lebte seit lange nicht mehr – fand man es unbequem, meinetwegen eine eigene K�che zu f�hren. Die Bedienten erhielten Kostgeld; ich auch, das man mir aber nicht auf die Hand gab, sondern monatweise im Speisehaus bezahlte. Ich war daher wenig in meiner Stube, die Abendstunden ausgenommen; denn mein Vater verlangte, da� ich l�ngstens eine halbe Stunde nach dem Schlu� der Kanzlei zu Hause sein sollte. Da sa� ich denn, und zwar, meiner schon damals angegriffenen Augen halber, in der D�mmerung ohne Licht. Ich dachte auf das und jenes und war nicht traurig und nicht froh.

Wenn ich nun so sa�, h�rte ich auf dem Nachbarshofe ein Lied singen. Mehrere Lieder, hei�t das, worunter mir aber eines vorz�glich[161] gefiel. Es war so einfach, so r�hrend und hatte den Nachdruck so auf der rechten Stelle, da� man die Worte gar nicht zu h�ren brauchte. Wie ich denn �berhaupt glaube, die Worte verderben die Musik.� Nun �ffnete er den Mund und brachte einige heisere rauhe T�ne hervor. �Ich habe von Natur keine Stimme�, sagte er und griff nach der Violine. Er spielte, und zwar diesmal mit richtigem Ausdrucke, die Melodie eines gem�tlichen, �brigens gar nicht ausgezeichneten Liedes, wobei ihm die Finger auf den Saiten zitterten und endlich einzelne Tr�nen �ber die Backen liefen.

�Das war das Lied�, sagte er, die Violine hinlegend. �Ich h�rte es immer mit neuem Vergn�gen. So sehr es mir aber im Ged�chtnis lebendig war, gelang es mir doch nie, mit der Stimme auch nur zwei T�ne davon richtig zu treffen. Ich ward fast ungeduldig von Zuh�ren. Da fiel mir meine Geige in die Augen, die aus meiner Jugend her, wie ein altes R�stst�ck, ungebraucht an der Wand hing. Ich griff darnach und – es mochte sie wohl der Bediente in meiner Abwesenheit ben�tzt haben – sie fand sich richtig gestimmt. Als ich nun mit dem Bogen �ber die Saiten fuhr, Herr, da war es, als ob Gottes Finger mich anger�hrt h�tte. Der Ton drang in mein Inneres hinein und aus dem Innern wieder heraus Die Luft um mich war wie geschw�ngert mit Trunkenheit. Das Lied unten im Hofe und die T�ne von meinen Fingern an mein Ohr, Mitbewohner meiner Einsamkeit. Ich fiel auf die Knie und betete laut und konnte nicht begreifen, da� ich das holde Gotteswesen einmal gering gesch�tzt, ja geha�t in meiner Kindheit, und k��te die Violine und dr�ckte sie an mein Herz und spielte wieder und fort.

Das Lied im Hofe – es war eine Weibsperson, die sang – t�nte derweile unausgesetzt; mit dem Nachspielen ging es aber nicht so leicht.

Ich hatte das Lied n�mlich nicht in Noten. Auch merkte ich wohl, da� ich das Wenige der Geigenkunst, was ich etwa einmal wu�te, so ziemlich vergessen hatte. Ich konnte daher nicht das und das, sondern nur �berhaupt spielen. Obwohl mir das jeweilige Was der Musik, tritt Ausnahme jenes Liedes, immer ziemlich gleichg�ltig war und auch geblieben ist bis zum heutigen Tag. Sie spielen den Wolfgang Amadeus Mozart und den Sebastian[162] Bach, aber den lieben Gott spielt keiner. Die ewige Wohltat und Gnade des Tons und Klangs, seine wundert�tige �bereinstimmung mit dem durstigen, zerlechzenden Ohr, da߫ fuhr er leiser und schamrot fort – �der dritte Ton zusammenstimmt mit dem ersten und der f�nfte desgleichen und die Nota sensibilis hinaufsteigt, wie eine erf�llte Hoffnung, die Dissonanz herabgebeugt wird als wissentliche Bosheit oder vermessener Stolz und die Wunder der Bindung und Umkehrung, wodurch auch die Sekunde zur Gnade gelangt in den Scho� des Wohlklangs. – Mir hat das alles, obwohl viel sp�ter, ein Musiker erkl�rt. Und, wovon ich aber nichts verstehe, die fuga und das punctum contra punctum, und der canon a duo, a tre, und so fort, ein ganzes Himmelsgeb�ude, eines ins andere greifend, ohne M�rtel verbunden, und gehalten von Gottes Hand. Davon will niemand etwas wissen bis auf wenige. Vielmehr st�ren sie dieses Ein- und Ausatmen der Seelen durch Hinzuf�gung allenfalls auch zu sprechender Worte, wie die Kinder Gottes sich verbanden mit den T�chtern der Erde; da� es h�bsch angreife und eingreife in ein schwieliges Gem�t. Herr�, schlo� er endlich, halb ersch�pft, �die Rede ist dem Menschen notwendig wie Speise, man sollte aber auch den Trank rein erhalten, der da kommt von Gott.�

Ich kannte meinen Mann beinahe nicht mehr, so lebhaft war er geworden. Er hielt ein wenig inne. �Wo blieb ich nur in meiner Geschichte?� sagte er endlich. �Ei ja, bei dem Liede und meinen Versuchen, es nachzuspielen. Es ging aber nicht. Ich trat ans Fenster, um besser zu h�ren. Da ging eben die S�ngerin �ber den Hof. Ich sah sie nur von r�ckw�rts, und doch kam sie mir bekannt vor. Sie trug einen Korb, mit, wie es schien, noch ungebackenen Kuchenst�cken. Sie trat in ein Pf�rtchen in der Ecke des Hofes, da wohl ein Backofen inne sein mochte, denn immer fortsingend, h�rte ich mit h�lzernen Ger�ten scharren, wobei die Stimme einmal dumpfer und einmal heller klang, wie eines, das sich b�ckt und in eine H�hlung hineinsingt, dann wieder erhebt und aufrecht dasteht. Nach einer Weile kam sie zur�ck, und nun merkte ich erst, warum sie mir vorher bekannt vorkam. Ich kannte sie n�mlich wirklich seit l�ngerer Zeit. Und zwar aus der Kanzlei.

Damit verhielt es sich so. Die Amtsstunden fingen fr�h an und w�hrten �ber den Mittag hinaus. Mehrere von den j�ngeren[163] Beamten, die nun entweder wirklich Hunger f�hlten, oder eine halbe Stunde damit vor sich bringen wollten, pflegten gegen eilf Uhr eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen. Die Gewerbsleute, die alles zu ihrem Vorteile zu benutzen wissen, ersparten den Leckerm�ulern den Weg und brachten ihre Feilschaften ins Amtsgeb�ude, wo sie sich auf Stiege und Gang damit hinstellten. Ein B�cker verkaufte kleine Wei�brote, die Obstfrau Kirschen. Vor allem aber waren gewisse Kuchen beliebt, die eines benachbarten Grieslers Tochter selbst verfertigte und noch warm zu Markt brachte. Ihre Kunden traten zu ihr auf den Gang hinaus, und nur selten kam sie, gerufen, in die Amtsstube, wo dann der etwas gr�mliche Kanzleivorsteher, wenn er ihrer gewahr wurde, ebenso selten ermangelte, sie wieder zur T�re hinauszuweisen, ein Gebot, dem sie sich nur mit Groll, und unwillige Worte murmelnd, f�gte.

Das M�dchen galt bei meinen Kameraden nicht f�r sch�n. Sie fanden sie zu klein, wu�ten die Farbe ihrer Haare nicht zu bestimmen. Da� sie Katzenaugen habe, bestritten einige, Pockengruben aber gaben alle zu. Nur von ihrem st�mmigen Wuchs sprachen alle mit Beifall, schalten sie aber grob, und einer wu�te viel von einer Ohrfeige zu erz�hlen, deren Spuren er noch acht Tage nachher gef�hlt haben wollte.

Ich selbst geh�rte nicht unter ihre Kunden. Teils fehlte mirs an Geld, teils habe ich Speise und Trank wohl immer – oft nur zu sehr als ein Bed�rfnis anerkennen m�ssen. Lust und Vergn�gen darin zu suchen aber ist mir nie in den Sinn gekommen. Wir nahmen daher keine Notiz von einander. Einmal nur, um mich zu necken, machten ihr meine Kameraden glauben, ich h�tte nach ihren E�waren verlangt. Sie trat zu meinem Arbeitstisch und hielt mir ihren Korb hin. Ich kaufe nichts, liebe Jungfer, sagte ich. Nun warum bestellen Sie dann die Leute? rief sie zornig. Ich entschuldigte mich, und so wie ich die Schelmerei gleich weg hatte, erkl�rte ich ihrs aufs beste. Nun, so schenken Sie mir wenigstens einen Bogen Papier, um meine Kuchen darauf zu legen, sagte sie. Ich machte ihr begreiflich, da� das Kanzleipapier sei und nicht: mir geh�re, zu Hause aber h�tte ich welches, das mein w�re, davon wollt ich ihr bringen. Zu Hause habe ich selbst genug, sagte sie sp�ttisch und schlug eine kleine Lache auf, indem sie fortging.[164]

Das war nur vor wenigen Tagen geschehen, und ich gedachte aus dieser Bekanntschaft sogleich Nutzen f�r meinen Wunsch zu ziehen. Ich kn�pfte daher des andern Morgens ein ganzes Buch Papier, an dem es bei uns zu Hause nie fehlte, unter den Rock und ging auf die Kanzlei, wo ich, um mich nicht zu verraten, meinen Harnisch mit gro�er Unbequemlichkeit auf dem Leibe behielt, bis ich gegen Mittag aus dem Ein- und Ausgehen meiner Kameraden und dem Ger�usch der kauenden Backen merkte, da� die Kuchenverk�uferin gekommen war, und glauben konnte, da� der Hauptandrang der Kunden vor�ber sei. Dann ging ich hin aus, zog mein Papier hervor, nahm mir ein Herz und trat zu dem M�dchen hin, die, den Korb vor sich auf dem Boden und den rechten Fu� auf einen Schemel gestellt, auf dem sie gew�hnlich zu sitzen pflegte, dastand, leise summend und mit dem auf den Schemel gest�tzten Fu� den Takt dazu tretend. Sie ma� mich vom Kopf bis zu den F��en, als ich n�her kam, was meine Verlegenheit vermehrte. Liebe Jungfer, fing ich endlich an, Sie haben neulich von mir Papier begehrt, als keines zur Hand war, das mir geh�rte. Nun habe ich welches von Hause mitgebracht und – damit hielt ich ihr mein Papier hin. Ich habe Ihnen schon neulich gesagt, erwiderte sie, da� ich selbst Papier zu Hause habe. Indes man kann alles brauchen. Damit nahm sie mit einem leichten Kopfnicken mein Geschenk und legte es in den Korb. Von den Kuchen wollen Sie nicht? sagte sie, unter ihren Waren herum musternd, auch ist das Beste schon fort. Ich dankte, sagte aber da� ich eine andere Bitte h�tte. Nu, allenfalls? sprach sie, mit dem Arm in die Handhabe des Korbes fahrend und aufgerichtet dastehend, wobei sie mich mit heftigen Augen anblitzte. Ich fiel rasch ein, da� ich ein Liebhaber der Tonkunst sei, obwohl erst seit kurzem, da� ich sie so sch�ne Lieder singen geh�rt, besonders eines. Sie? Mich? Lieder? fuhr sie auf, und wo? Ich erz�hlte ihr weiter da� ich in ihrer Nachbarschaft wohne und sie auf dem Hofe bei der Arbeit belauscht h�tte. Eines ihrer Lieder gefiele mir besonders, so da� ichs schon versucht h�tte, auf der Violine nachzuspielen. W�ren Sie etwa gar derselbe, rief sie aus, der so kratzt auf der Geige? – Ich war damals, wie ich bereits sagte, nur Anf�nger und habe erst sp�ter mit vieler M�he die n�tige Gel�ufigkeit in diese Finger gebracht�, unterbrach sich der alte Mann, wobei er mit der[165] linken Hand, als einer, der geigt, in der Luft herumfingerte. �Mir war es�, setzte er seine Erz�hlung fort, �ganz hei� ins Gesicht gestiegen, und ich sah auch ihr an, da� das harte Wort sie gereute Werte Jungfer, sagte ich, das Kratzen r�hrt von daher, da� ich das Lied nicht in Noten habe, weshalb ich auch h�flichst um die Abschrift gebeten haben wollte. Um die Abschrift? sagte sie. Das Lied ist gedruckt und wird an den Stra�enecken verkauft. Das Lied, entgegnete ich. Das sind wohl nur die Worte. – Nun ja, die Worte, das Lied. – Aber der Ton, in dem mans singt. – Schreibt man denn derlei auch auf; fragte sie. Freilich! war meine Antwort, das ist ja eben die Hauptsache. Und wie haben denn Sies erlernt, werte Jungfer, – Ich h�rte es singen, und da sang ichs nach. – Ich erstaunte �ber das nat�rliche Ingenium, wie denn �berhaupt die ungelernten Leute oft die meisten Talente haben. Es ist aber doch nicht das Rechte, die eigentliche Kunst. Ich war nun neuerdings in Verzweiflung. Aber welches Lied ist es denn eigentlich? sagte sie. Ich wei� so viele. – Alle ohne Noten? – Nun freilich; also welches war es denn? – Es ist gar so sch�n, erkl�rte ich mich. Steigt gleich anfangs in die H�he, kehrt dann in sein Inwendiges zur�ck und h�rt ganz leise auf. Sie singens auch am �ftesten. Ach, das wird wohl das sein! sagte sie, setzte den Korb wieder ab, stellte den Fu� auf den Schemmel und sang nun mit ganz leiser und doch klarer Stimme das Lied, wobei sie das Haupt duckte, so sch�n, so lieblich, da�, ehe sie noch zu Ende war, ich nach ihrer herabh�ngenden Hand fuhr. Oho! sagte sie, den Arm zur�ckziehend, denn sie meinte wohl, ich wollte ihre Hand unziemlicherweise anfassen, aber nein, k�ssen wollte ich sie, obschon sie nur ein armes M�dchen war. – Nun, ich bin ja jetzt auch ein armer Mann.

Da ich nun vor Begierde, das Lied zu haben, mir in die Haare fuhr, tr�stete sie mich und sagte: der Organist der Peterskirche k�me �fter um Muskatnu� in ihres Vaters Gew�lbe, den wolle sie bitten, alles auf Noten zu bringen. Ich k�nnte es nach ein paar Tagen dort abholen. Hierauf nahm sie ihren Korb und ging, wobei ich ihr das Geleite bis zur Stiege gab. Auf der obersten Stufe die letzte Verbeugung machend, �berraschte mich der Kanzleivorsteher, der mich an meine Arbeit gehen hie� und auf das M�dchen schalt, an dem, wie er behauptete, kein gutes Haar[166] sei. Ich war dar�ber heftig erz�rnt und wollte ihm eben antworten, da� ich, mit seiner Erlaubnis, vom Gegenteile �berzeugt sei, als ich bemerkte, da� er bereits in sein Zimmer zur�ckgegangen war, weshalb ich mich fa�te und ebenfalls an meinen Schreibtisch ging. Doch lie� er sich seit dieser Zeit nicht nehmen, da� ich ein liederlicher Beamter und ein ausschweifender Mensch sei.

Ich konnte auch wirklich desselben und die darauffolgenden Tage kaum etwas Vern�nftiges arbeiten, so ging mir das Lied im Kopfe herum, und ich war wie verloren. Ein paar Tage vergangen, wu�te ich wieder nicht, ob es schon Zeit sei, die Noten abzuholen oder nicht. Der Organist, hatte das M�dchen gesagt, kam in ihres Vaters Laden, um Muskatnu� zu kaufen; die konnte er nur zu Bier gebrauchen. Nun war seit einiger Zeit k�hles Wetter und daher wahrscheinlich, da� der wackere Tonk�nstler sich eher an den Wein halten und daher so bald keine Muskatnu� bed�rfen werde. Zu schnell anfragen schien mir unh�fliche Zudringlichkeit, allzu langes Warten konnte f�r Gleichg�ltigkeit ausgelegt werden. Mit dem M�dchen auf dem Gange zu sprechen, getraute ich mir nicht, da unsere erste Zusammenkunft bei meinen Kameraden ruchbar geworden war, und sie vor Begierde brannten, mir einen Streich zu spielen.

Ich hatte inzwischen die Violine mit Eifer wieder aufgenommen und �bte vorderhand das Fundament gr�ndlich durch, erlaubte mir wohl auch von Zeit zu Zeit, aus dem Kopfe zu spielen, wobei ich aber das Fenster sorgf�ltig schlo�, da ich wu�te, da� mein Vortrag mi�fiel. Aber wenn ich das Fenster auch �ffnete, bekam ich mein Lied doch nicht wieder zu h�ren. Die Nachbarin sang teils gar nicht, teils so leise und bei verschlossener T�re, da� ich nicht zwei T�ne unterscheiden konnte.

Endlich – es waren ungef�hr drei Wochen vergangen – vermocht ichs nicht mehr auszuhalten. Ich hatte zwar schon durch zwei Abende mich auf die Gasse gestohlen – und das ohne Hut, damit die Dienstleute glauben sollten, ich suchte nur nach etwas im Hause – sooft ich aber in die N�he des Grieslerladens kam, �berfiel mich ein so heftiges Zittern, da� ich umkehren mu�te, ich mochte wollen oder nicht. Endlich aber – wie gesagt – konnte ichs nicht mehr aushalten. Ich nahm mir ein Herz und ging eines Abends – auch diesmal ohne Hut – aus meinem Zimmer die[167] Treppe hinab und festen Schrittes durch die Gasse bis zu dem Grieslerladen, wo ich vorderhand stehen blieb und �berlegte, was weiter zu tun sei. Der Laden war erleuchtet und ich h�rte Stimmen darin. Nach einigem Z�gern beugte ich mich vor und lugte von der Seite hinein. Ich sah das M�dchen hart vor dem Ladentische am Lichte sitzen und in einer h�lzernen Mulde Erbsen oder Bohnen lesen. Vor ihr stand ein derber, r�stiger Mann, die Jacke �ber die Schulter geh�ngt, eine Art Knittel in der Hand, ungef�hr wie ein Fleischhauer. Die beiden sprachen, offenbar in guter Stimmung, denn das M�dchen lachte einigemale laut auf, ohne sich aber in ihrer Arbeit zu unterbrechen oder auch nur aufzusehen. War es meine gezwungene vorgebeugte Stellung, oder sonst was immer, mein Zittern begann wieder zu kommen; als ich mich pl�tzlich von r�ckw�rts mit derber Hand angefa�t und nach vorw�rts geschleppt f�hlte. In einem Nu stand ich im Gew�lbe, und als ich, losgelassen, mich umschaute, sah ich, da� es der Eigent�mer selbst war, der, von ausw�rts nach Hause kehrend, mich auf der Lauer �berrascht und als verd�chtig angehalten hatte. Element! schrie er, da sieht man, wo die Pflaumen hinkommen und die Handvoll Erbsen und Rollgerste, die im Dunkeln aus den Auslagk�rben gemaust werden. Da soll ja gleich das Donnerwetter dreinschlagen. Und damit ging er auf mich los, als ob er wirklich dreinschlagen wolle.

Ich war wie vernichtet, wurde aber durch den Gedanken, da� man an meiner Ehrlichkeit zweifle, bald wieder zu mir selbst gebracht. Ich verbeugte mich daher ganz kurz und sagte dem Unh�flichen, da� mein Besuch nicht seinen Pflaumen oder seiner Rollgerste, sondern seiner Tochter gelte. Da lachte der in der Mitte des Ladens stehende Fleischer laut auf und wendete sich zu gehen, nachdem er vorher dem M�dchen ein paar Worte leise zugefl�stert hatte, die sie gleichfalls lachend durch einen schallenden Schlag mit der flachen Hand auf seinen R�cken beantwortete. Der Griesler gab dem Weggehenden das Geleit zur T�re hinaus. Ich hatte derweil schon wieder all meinen Mut verloren und stand dem M�dchen gegen�ber, die gleichg�ltig ihre Erbsen und Bohnen las, als ob das Ganze sie nichts anginge. Da polterte der Vater wieder zur T�re herein. Mordtausendelement noch einmal, sagte er, Herr, was solls mit meiner Tochter? Ich versuchte, ihm den[168] Zusammenhang und den Grund meines Besuches zu erkl�ren. Was Lied? sagte er, ich will euch Lieder singen! wobei er den rechten Arm sehr verd�chtig auf und ab bewegte. – Dort liegt es, sprach das M�dchen, indem sie, ohne die Mulde mit H�lsenfr�chten wegzusetzen, sich samt dem Sessel seitw�rts �berbeugte und mit der Hand auf den Ladentisch hinwies. Ich eilte hin und sah ein Notenblatt liegen. Es war das Lied. Der Alte war mir aber zuvorgekommen. Er hielt das sch�ne Papier zerknitternd in der Hand. Ich frage, sagte er, was das abgibt? Wer ist der Mensch? Es ist ein Herr aus der Kanzlei, erwiderte sie, indem sie eine wurmstichige Erbse etwas weiter als die anderen von sich warf. Ein Herr aus der Kanzlei, rief er, im Dunkeln, ohne Hut? Den Mangel des Hutes erkl�rte ich durch den Umstand, da� ich ganz in der N�he wohnte, wobei ich das Haus bezeichnete. Das Haus wei� ich, rief er. Da wohnt niemand drinnen als der Hofrat – hier nannte er den Namen meines Vaters – und die Bedienten kenne ich alle. Ich bin der Sohn des Hofrats, sagte ich, leise, als obs eine L�ge w�re. – Mir sind im Leben viele Ver�nderungen vorgekommen, aber noch keine so pl�tzlich, als bei diesen Worten in dem ganzen Wesen des Mannes vorging. Der zum Schm�hen ge�ffnete Mund blieb offen stehen, die Augen drohten noch immer, aber um den untern Teil des Gesichtes fing an eine Art L�cheln zu spielen, das sich immer mehr Platz machte. Das M�dchen blieb in ihrer Gleichg�ltigkeit und geb�ckten Stellung, nur da� sie sich die losgegangenen Haare, fortarbeitend, hinter die Ohren zur�ckstrich. Der Sohn des Herrn Hofrats? schrie endlich der Alte, in dessen Gesichte die Aufheiterung vollkommen geworden war. Wollen Euer Gnaden sichs vielleicht bequem machen? Barbara, einen Stuhl! Das M�dchen bewegte sich widerwillig auf dem ihren. Nu, wart, Tuckmauser! sagte er, indem er selbst einen Korb von seinem Platze hob und den darunter gestellten Sessel mit dem Vortuche vom Staube reinigte. Hohe Ehre, fuhr er fort Der Herr Hofrat – der Herr Sohn, wollt ich sagen, praktizieren also auch die Musik? Singen vielleicht, wie meine Tochter, oder vielmehr ganz anders, nach Noten, nach der Kunst, Ich erkl�rte ihm, da� ich von Natur keine Stimme h�tte. Oder schlagen Klavizimbel, wie die vornehmen Leute zu tun pflegen? Ich sagte da� ich die Geige spiele. Habe auch in meiner Jugend gekratzt[169] auf der Geige, rief er. Bei dem Worte kratzen blickte ich unwillk�rlich auf das M�dchen und sah, da� sie ganz sp�ttisch l�chelte, was mich sehr verdro�.

Sollten sich des M�dels annehmen, hei�t das in Musik, fuhr er fort. Singt eine gute Stimme, hat auch sonst ihre Qualit�ten, aber das Feine, lieber Gott, wo solls herkommen; wobei er Daumen und Zeigefinger der rechten Hand wiederholt �bereinander schob. Ich war ganz besch�mt, da� man mir unverdienterweise so bedeutende musikalische Kenntnisse zutraute, und wollte eben den wahren Stand der Sache auseinander setzen, als ein au�en Vor�bergehender in den Laden hereinrief: Guten Abend alle miteinander! Ich erschrak, denn es war die Stimme eines der Bedienten unseres Hauses. Auch der Griesler hatte sie erkannt. Die Spitze der Zunge vorschiebend und die Schulter emporgehoben, fl�sterte er: Waren einer der Bedienten des gn�digen Papa. Konnten Sie aber nicht erkennen, standen mit dem R�cken gegen die T�re. Letzteres verhielt sich wirklich so. Aber das Gef�hl des Heimlichen, Unrechten ergriff mich qualvoll. Ich stammelte nur ein paar Worte zum Abschied und ging. Ja selbst mein Lied h�tte ich vergessen, w�re mir nicht der Alte auf die Stra�e nachgesprungen, wo er mirs in die Hand steckte.

So gelangte ich nach Hause, auf mein Zimmer, und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Und sie blieben nicht aus. Der Bediente hatte mich dennoch erkannt. Ein paar Tage darauf trat der Sekret�r meines Vaters zu mir auf die Stube und k�ndigte mir an, da� ich das elterliche Haus zu verlassen h�tte. Alle meine Gegenreden waren fruchtlos. Man hatte mir in einer entfernten Vorstadt ein K�mmerchen gemietet, und so war ich denn ganz aus der N�he der Angeh�rigen verbannt. Auch meine S�ngerin bekam ich nicht mehr zu sehen. Man hatte ihr den Kuchenhandel auf der Kanzlei eingestellt, und ihres Vaters Laden zu betreten, konnte ich mich nicht entschlie�en, da ich wu�te, da� es dem meinigen mi�fiel. Ja, als ich dem alten Griesler zuf�llig auf der Stra�e begegnete, wandte er sich mit einem grimmigen Gesichte von mir ab, und ich war wie niedergedonnert. Da holte ich denn, halbe Tage lang allein, meine Geige hervor und spielte und �bte.

Es sollte aber noch schlimmer kommen. Das Gl�ck unseres Hauses ging abw�rts. Mein j�ngster Bruder, ein eigenwilliger,[170] ungest�mer Mensch, Offizier bei den Dragonern, mu�te eine unbesonnene Wette, infolge der er, vom Ritt erhitzt, mit Pferd und R�stung durch die Donau schwamm – es war tief in Ungarn – mit dem Leben bezahlen. Der �ltere, geliebteste, war in einer Provinz am Ratstisch angestellt. In immerw�hrender Widersetzlichkeit gegen seinen Landesvorgesetzten und, wie sie sagten, heimlich dazu von unserem Vater aufgemuntert, erlaubte er sich sogar unrichtige Angaben, um seinen Gegner zu schaden. Es kam zur Untersuchung, und mein Bruder ging heimlich aus dem Lande. Die Feinde unseres Vaters, deren viele waren, ben�tzten den Anla�, ihn zu st�rzen. Von allen Seiten angegriffen, und ohnehin ingrimmig �ber die Abnahme seines Einflusses, hielt er t�glich die angreifendsten Reden in der Ratssitzung. Mitten in einer derselben traf ihn ein Schlagflu�. Er wurde sprachlos nach Hause gebracht. Ich selbst erfuhr nichts davon. Des andern Tages auf der Kanzlei bemerkte ich wohl, da� sie heimlich fl�sterten und mit den Fingern nach mir wiesen. Ich war aber derlei schon gewohnt und hatte kein Arges. Freitags darauf – es war Mittwochs gewesen wurde mir pl�tzlich ein schwarzer Anzug mit Flor auf die Stube gebracht. Ich erstaunte und fragte und erfuhr. Mein K�rper ist sonst stark und widerh�ltig, aber da fiels mich an mit Macht. Ich sank besinnungslos zu Boden. Sie trugen mich ins Bette, wo ich fieberte und irre sprach den Tag hindurch und die ganze Nacht. Des andern Morgens hatte die Natur die Oberhand gewonnen, aber mein Vater war tot und begraben.

Ich hatte ihn nicht mehr sprechen k�nnen; ihn nicht um Verzeihung bitten wegen all des Kummers, den ich ihm gemacht nicht mehr danken f�r die unverdienten Gnaden – ja Gnaden! denn seine Meinung war gut, und ich hoffe ihn einst wiederzufinden, wo wir nach unsern Absichten gerichtet werden und nicht nach unsern Werken.

Ich blieb mehrere Tage auf meinem Zimmer, kaum da� ich Nahrung zu mir nahm. Endlich ging ich doch hervor, aber gleich nach Tische wieder nach Hause, und nur des Abends irrte ich in den dunkeln Stra�en umher, wie Kain, der Bruderm�rder. Die v�terliche Wohnung war mir dabei ein Schreckbild, dem ich sorgf�ltigst aus dem Wege ging. Einmal aber, gedankenlos vor mich hinstarrend, fand ich mich pl�tzlich in der N�he des gef�rchteten[171] Hauses. Meine Kniee zitterten, da� ich mich anhalten mu�te. Hinter mir an die Wand greifend, erkenne ich die T�re des Grieslerladens und darin sitzend Barbara, einen Brief in der Hand, neben ihr das Licht auf dem Ladentische und hart dabei in aufrechter Stellung ihr Vater, der ihr zuzusprechen schien. Und wenn es mein Leben gegolten h�tte, ich mu�te eintreten. Niemanden zu haben, dem man sein Leid klagen kann, niemanden, der Mitleid f�hlt! Der Alte, wu�te ich wohl, war auf mich erz�rnt, aber das M�dchen sollte mir ein gutes Wort geben. Doch kam es ganz entgegengesetzt. Barbara stand auf, als ich eintrat, warf mir einen hochm�tigen Blick zu und ging in die Nebenkammer, deren T�re sie abschlo�. Der Alte aber fa�te mich bei der Hand, hie� mich niedersitzen, tr�stete mich, meinte aber auch, ich sei nun ein reicher Mann und h�tte mich um niemanden mehr zu k�mmern. Er fragte, wieviel ich geerbt h�tte. Ich wu�te das nicht. Er forderte mich auf, zu den Gerichten zu gehen, was ich versprach. In den Kanzleien, meinte er, sei nichts zu machen. Ich sollte meine Erbschaft im Handel anlegen. Knoppern und Fr�chte w�rfen guten Profit ab; ein Kompagnon, der sich darauf verst�nde, k�nnte Groschen in Gulden verwandeln. Er selbst habe sich einmal viel damit abgegeben. Dabei rief er wiederholt nach dem M�dchen, die aber kein Lebenszeichen von sich gab. Doch schien mir, als ob ich an der T�re zuweilen rascheln h�rte. Da sie aber immer nicht kam, und der Alte nur vom Gelde redete, empfahl ich mich endlich und ging, wobei der Mann bedauerte, mich nicht begleiten zu k�nnen, da er allein im Laden sei. Ich war traurig �ber meine verfehlte Hoffnung und doch wunderbar getr�stet. Als ich auf der Stra�e stehenblieb und nach dem Hause meines Vaters hin�berblickte, h�rte ich pl�tzlich hinter mir eine Stimme, die ged�mpft und im Tone des Unwillens sprach: Trauen Sie nicht gleich jedermann, man meint es nicht gut mit Ihnen. So schnell ich mich umkehrte, sah ich doch niemand; nur das Klirren eines Fensters im Erdgeschosse, das zu des Grieslers Wohnung geh�rte, belehrte mich, wenn ich auch die Stimme nicht erkannt h�tte, da� Barbara die geheime Warnerin war. Sie hatte also doch geh�rt, was im Laden gesprochen worden. Wollte sie mich vor ihrem Vater warnen, oder war ihr zu Ohren gekommen, da� gleich nach meines Vaters Tode, teils Kollegen aus der[172] Kanzlei, teils andere ganz unbekannte Leute mich mit Bitten um Unterst�tzung und Nothilfe angegangen, ich auch zugesagt, wenn ich erst zu Geld kommen w�rde. Was einmal versprochen, mu�te ich halten, in Zukunft aber beschlo� ich, vorsichtiger zu sein. Ich meldete mich wegen meiner Erbschaft. Es war weniger, als man geglaubt hatte, aber doch sehr viel, nahe an eilftausend Gulden. Mein Zimmer wurde den ganzen Tag von Bittenden und Hilfesuchenden nicht leer. Ich war aber beinahe hart geworden und gab nur, wo die Not am gr��ten war. Auch Barbaras Vater kam. Er schm�lte, da� ich sie schon drei Tage nicht besucht, worauf ich der Wahrheit gem�� erwiderte, da� ich f�rchte, seiner Tochter zur Last zu sein. Er aber sagte, das sollte mich nicht k�mmern, er habe ihr schon den Kopf zurecht gesetzt, wobei er auf eine boshafte Art lachte, so da� ich erschrak. Dadurch an Barbaras Warnung r�ckerinnert, verhehlte ich, als wir bald im Gespr�che darauf kamen, den Betrag meiner Erbschaft; auch seinen Handelsvorschl�gen wich ich geschickt aus.

Wirklich lagen mir bereits andere Aussichten im Kopfe. In der Kanzlei, wo man mich nur meines Vaters wegen geduldet hatte, war mein Platz bereits durch einen andern besetzt, was mich, da kein Gehalt damit verbunden war, wenig k�mmerte. Aber der Sekret�r meines Vaters, der durch die letzten Ereignisse brotlos geworden, teilte mir den Plan zur Errichtung eines Auskunfts-, Kopier- und �bersetzungs-Comptoirs mit, wozu ich die ersten Einrichtungskosten vorschie�en sollte, indes er selbst die Direktion zu �bernehmen bereit war. Auf mein Andringen wurden die Kopierarbeiten auch auf Musikalien ausgedehnt, und nun war ich in meinem Gl�cke. Ich gab das erforderliche Geld, lie� mir aber, schon vorsichtig geworden, eine Handschrift dar�ber ausstellen. Die Kaution f�r die Anstalt, die ich gleichfalls vorscho�, schien, obgleich betr�chtlich, kaum der Rede wert, da sie bei den Gerichten hinterlegt werden mu�te und dort mein blieb, als h�tte ich sie in meinem Schranke.

Die Sache war abgetan, und ich f�hlte mich erleichtert, erhoben, zum ersten Male in meinem Leben selbstst�ndig, ein Mann. Kaum da� ich meines Vaters noch gedachte. Ich bezog eine bessere Wohnung, �nderte einiges in meiner Kleidung und ging, als es Abend geworden, durch wohlbekannte Stra�en nach dem[173] Grieslerladen, wobei ich mit den F��en schlenkerte und mein Lied zwischen den Z�hnen summte, obwohl nicht ganz richtig. Das B in der zweiten H�lfte habe ich mit der Stimme nie treffen k�nnen. Froh und guter Dinge langte ich an, aber ein eiskalter Blick Barbaras warf mich sogleich in meine fr�here Zaghaftigkeit zur�ck. Der Vater empfing mich aufs beste, sie aber tat, als ob niemand zugegen w�re, fuhr fort Papierd�ten zu wickeln und mischte sich mit keinem Worte in unser Gespr�ch. Nur als die Rede auf meine Erbschaft kam, fuhr sie mit halbem Leibe empor, und sagte fast drohend, Vater! worauf der Alte sogleich den Gegenstand �nderte. Sonst sprach sie den ganzen Abend nichts, gab mir keinen zweiten Blick, und als ich mich endlich empfahl, klang ihr: Guten Abend! beinahe wie ein Gott sei Dank!

Aber ich kam wieder und wieder, und sie gab allm�hlich nach. Nicht als ob ich ihr irgend etwas zu Danke gemacht h�tte. Sie schalt und tadelte mich unaufh�rlich. Alles war ungeschickt; Gott hatte nur zwei linke H�nde erschaffen, mein Rock sa� wie an einer Vogelscheuche, ich ging wie die Enten, mit einer Anmahnung an den Haushahn. Besonders zuwider war ihr meine H�flichkeit gegen die Kunden. Da ich n�mlich bis zur Er�ffnung der Kopieranstalt ohne Besch�ftigung war und �berlegte, da� ich dort mit dem Publikum zu tun haben w�rde, so nahm ich, als Vor�bung, an dem Kleinverkauf im Grieslergew�lbe t�tigen Anteil, was mich oft halbe Tage lang festhielt. Ich wog Gew�rz ab, z�hlte den Knaben N�sse und Welkpflaumen zu, gab klein Geld heraus; letzteres nickt ohne h�ufige Irrungen, wo denn immer Barbara dazwischen fuhr, gewaltt�tig wegnahm, was ich eben in den H�nden hielt, und mich vor den Kunden verlachte und verspottete. Machte ich einem der K�ufer einen B�ckling oder empfahl mich ihnen, so sagte sie barsch, ehe die Leute noch zur T�re hinaus waren: Die Ware empfiehlt! und kehrte mir den R�cken. Manchmal aber wieder war sie ganz G�te. Sie h�rte mir zu, wenn ich erz�hlte, was in der Stadt vorging; aus meinen Kinderjahren; von dem Beamtenwesen in der Kanzlei, wo wir uns zuerst kennengelernt. Dabei lie� sie mich aber immer allein sprechen, und gab nur durch einzelne Worte ihre Billigung oder – was �fter der Fall war – ihre Mi�billigung zu erkennen.

Von Musik oder Gesang war nie die Rede. Erstlich meinte sie,[174] man m�sse entweder singen oder das Maul halten, zu reden sei da nichts. Das Singen selbst aber ging nicht an. Im Laden war es unziemlich, und die Hinterstube, die sie und ihr Vater gemeinschaftlich bewohnten, durfte ich nicht betreten. Einmal aber, als ich unbemerkt zur T�re hereintrat, stand sie, auf den Zehenspitzen emporgerichtet, den R�cken nur zugekehrt und mit den erhobenen H�nden, wie man nach etwas sucht, auf einem der h�heren Stellbretter herumtastend. Und dabei sang sie leise in sich hinein. – Es war das Lied, mein Lied! – Sie aber zwitscherte wie eine Grasm�cke, die am Bache das H�lslein w�scht und das K�pfchen herumwirft und die Federn str�ubt und wieder gl�ttet mit dem Schn�blein. Mir war, als ginge ich auf gr�nen Wiesen. Ich schlich n�her und n�her und war schon so nahe, da� das Lied nicht mehr von au�en, da� es aus mir herauszut�nen schien, ein Gesang der Seelen. Da konnte ich mich nicht mehr halten und fa�te mit beiden H�nden ihren in der Mitte nach vorn strebenden und mit den Schultern gegen mich gesenkten Leib. Da aber kams. Sie wirbelte wie ein Kreisel um sich selbst. Glutrot vor Zorn im Gesichte, stand sie vor mir da; ihre Hand zuckte, und ehe ich mich entschuldigen konnte –

Sie hatten, wie ich schon fr�her berichtet, auf der Kanzlei �fter von einer Ohrfeige erz�hlt, die Barbara, noch als Kuchenh�ndlerin, einem Zudringlichen gegeben. Was sie da sagten von der St�rke des eher klein zu nennenden M�dchens und der Schwungkraft ihrer Hand, schien h�chlich und zum Scherze �bertrieben. Es verhielt sich aber wirklich so, und ging ins Riesenhafte. Ich stand wie vom Donner getroffen. Die Lichter tanzten mir vor den Augen. – Aber es waren Himmelslichter. Wie Sonne, Mond und Sterne; wie die Engelein, die Versteckens spielen und dazu singen. Ich hatte Erscheinungen, ich war verz�ckt. Sie aber, kaum minder erschrocken als ich, fuhr mit ihrer Hand wie beg�tigend �ber die geschlagene Stelle. Es mag wohl zu stark ausgefallen sein, sagte sie, und – wie ein zweiter Blitzstrahl – f�hlte ich pl�tzlich ihren warmen Atem auf meiner Wange und ihre zwei Lippen, und sie k��te mich; nur leicht, leicht; aber es war ein Ku� auf diese meine Wange, hier!� Dabei klatschte der alte Mann auf seine Backe, und die Tr�nen traten ihm aus den Augen. �Was nun weiter geschah, wei� ich nicht�, fuhr er fort. �Nur da� ich auf sie losst�rzte[175] und sie in die Wohnstube lief und die Glast�re zuhielt, w�hrend ich von der andern Seite nachdr�ngte. Wie sie nun, zusammengekr�mmt und mit aller Macht sich entgegenstemmend, gleichsam an dem T�rfenster klebte, nahm ich mir ein Herz, verehrtester Herr, und gab ihr ihren Ku� heftig zur�ck, durch das Glas.

Oho, hier gehts lustig her! h�rte ich hinter mir rufen. Es war der Griesler, der eben nach Hause kam. Nu, was sich neckt – sagte er. Komm nur heraus, B�rbe, und mach keine Dummheiten! Einen Ku� in Ehren kann niemand wehren. – Sie aber kam nicht. Ich selbst entfernte mich nach einigen halb bewu�tlos gestotterten Worten, wobei ich den Hut des Grieslers statt des meinigen nahm, den er lachend mir in der Hand austauschte. Das war, wie ich ihn schon fr�her nannte, der Gl�ckstag meines Lebens. Fast h�tte ich gesagt: der einzige, was aber nicht wahr w�re, denn der Mensch hat viele Gnaden von Gott.

Ich wu�te nicht recht, wie ich im Sinne des M�dchens stand. Sollte ich sie mir mehr erz�rnt oder mehr beg�tigt denken, Der n�chste Besuch kostete einen schweren Entschlu�. Aber sie war gut Dem�tig und still, nicht auffahrend wie sonst, sa� sie da bei einer Arbeit. Sie winkte mit dem Kopfe auf einen nebenstehenden Schemmel, da� ich mich setzen und ihr helfen sollte. So sa�en wir denn und arbeiteten. Der Alte wollte hinausgehen. Bleibt doch da, Vater, sagte sie; was Ihr besorgen wollt, ist schon abgetan. Er trat mit dem Fu�e hart auf den Boden und blieb. Ab- und zugehend sprach er von diesem und jenem, ohne da� ich mich in das Gespr�ch zu mischen wagte. Da stie� das M�dchen pl�tzlich einen kleinen Schrei aus. Sie hatte sich beim Arbeiten einen Finger geritzt, und, obgleich sonst gar nicht weichlich, schlenkerte sie mit der Hand hin und her. Ich wollte zusehen, aber sie bedeutete mich fortzufahren. Alfanzerei und kein Ende! brummte der Alte, und vor das M�dchen hintretend, sagte er mit starker Stimme: Was zu besorgen war, ist noch gar nicht getan! und so ging er schallenden Trittes zur T�re hinaus. Ich wollte nun anfangen, mich von gestern her zu entschuldigen; sie aber unterbrach mich und sagte: Lassen wir das und sprechen wir jetzt von gescheiten Dingen.

Sie hob den Kopf empor, ma� mich vom Scheitel bis zur Zehe und fuhr in ruhigem Tone fort: Ich wei� kaum selbst mehr den Anfang unserer Bekanntschaft, aber Sie kommen seit einiger Zeit[176] �fter und �fter, und wir haben uns an Sie gew�hnt. Ein ehrliches Gem�t wird Ihnen niemand abstreiten, aber Sie sind schwach, immer auf Nebendinge gerichtet, so da� Sie kaum imstande w�ren, Ihren eigenen Sachen selbst vorzustehen. Da wird es denn Pflicht und Schuldigkeit von Freunden und Bekannten, ein Einsehen zu haben, damit Sie nicht zu Schaden kommen. Sie versitzen hier halbe Tage im Laden, z�hlen und w�gen, messen und markten; aber dabei kommt nichts heraus. Was gedenken Sie in Zukunft zu tun, um Ihr Fortkommen zu haben, Ich erw�hnte der Erbschaft meines Vaters. Die mag recht gro� sein, sagte sie. Ich nannte den Betrag. Das ist viel und wenig, erwiderte sie. Viel, um etwas damit anzufangen; wenig, um vom Breiten zu zehren. Mein Vater hat Ihnen zwar einen Vorschlag getan, ich riet Ihnen aber ab. Denn einmal hat er schon selbst Geld bei derlei Dingen verloren, dann, setzte sie mit gesenkter Stimme hinzu, ist er so gewohnt, von Fremden Gewinn zu ziehen, da� er es Freunden vielleicht auch nicht besser machen w�rde. Sie m�ssen jemand an der Seite haben, der es ehrlich meint. – Ich wies auf sie. – Ehrlich bin ich, sagte sie. Dabei legte sie die Hand auf die Brust, und ihre Augen, die sonst ins Graulichte spielten, gl�nzten hellblau, himmelblau. Aber mit mir hats eigene Wege. Unser Gesch�ft wirft wenig ab, und mein Vater geht mit dem Gedanken um, einen Schenkladen aufzurichten. Da ist denn kein Platz f�r mich. Mir bliebe nur Handarbeit, denn dienen mag ich nicht. Und dabei sah sie aus wie eine K�nigin. Man hat mir zwar einen andern Antrag gemacht, fuhr sie fort, indem sie einen Brief aus ihrer Sch�rze zog und halb widerwillig auf den Ladentisch warf; aber da m��te ich fort von hier. – Und Weit? fragte ich. – Warum? was k�mmert Sie das? – Ich erkl�rte, da� ich an denselben Ort hinziehen wollte. – Sind Sie ein Kind! sagte sie. Das ginge nicht an und w�ren ganz andere Dinge. Aber wenn Sie Vertrauen zu mir haben und gerne in meiner N�he sind, so bringen Sie den Putzladen an sich, der hier nebenan zu Verkauf steht. Ich verstehe das Werk, und um den b�rgerlichen Gewinn aus Ihrem Gelde d�rften Sie nicht verlegen sein. Auch f�nden Sie selbst mit Rechnen und Schreiben eine ordentliche Besch�ftigung. Was sich etwa noch weiter erg�be, davon wollen wir jetzt nicht reden. – Aber �ndern m��ten Sie sich! Ich hasse die weibischen M�nner.[177]

Ich war aufgesprungen und griff nach meinem Hute. Was ist? wo wollen Sie hin, fragte Sie. Alles abbestellen, sagte ich mit kurzem Atem. – Was denn? – Ich erz�hlte ihr nun meinen Plan zur Errichtung eines Schreib- und Auskunfts-Comptoirs. Da kommt nicht viel heraus, meinte sie. Auskunft einziehen kann ein jeder selbst und schreiben hat auch ein jeder gelernt in der Schule. Ich bemerkte, da� auch Musikalien kopiert werden sollten, was nicht jedermanns Sache sei. Kommen Sie schon wieder mit solchen Albernheiten? fuhr sie mich an. Lassen Sie das Musizieren und denken Sie auf die Notwendigkeit! Auch w�ren Sie nicht imstande, einem Gesch�fte selbst vorzustehen. Ich erkl�rte, da� ich einen Compagnon gefunden h�tte. Einen Compagnon? rief sie aus. Da will man Sie gewi� betr�gen! Sie haben doch noch kein Geld hergegeben? – Ich zitterte, ohne zu wissen, warum. – Haben Sie Geld gegeben? fragte sie noch einmal. Ich gestand die dreitausend Gulden zur ersten Einrichtung. – Dreitausend Gulden? rief sie, so vieles Geld! – Das �brige, fuhr ich fort, ist bei den Gerichten hinterlegt und jedenfalls sicher. – Also noch mehr? schrie sie auf Ich gab den Betrag der Kaution an. – Und haben Sie die selbst bei den Gerichten angelegt? – Es war durch meinen Compagnon geschehen. – Sie haben doch einen Schein dar�ber, – Ich hatte keinen Schein. – Und wie hei�t Ihr sauberer Compagnon? fragte sie weiter. Ich war einigerma�en beruhigt, ihr den Sekret�r meines Vaters nennen zu k�nnen.

Gott der Gerechte! rief sie aufspringend und die H�nde zusammenschlagend. Vater! Vater! – Der Alte trat herein. – Was habt Ihr heute aus den Zeitungen gelesen; – Von dem Sekretarius? sprach er. – Wohl, wohl! – Nun, der ist durchgegangen, hat Schulden �ber Schulden hinterlassen und die Leute betrogen. Sie verfolgen ihn mit Steckbriefen! – Vater, rief sie, er hat ihm auch sein Geld anvertraut. Er ist zugrunde gerichtet. – Potz Dummk�pfe und kein Ende! schrie der Alte. Hab ichs nicht immer gesagt, Aber das war ein Entschuldigen. Einmal lachte sie �ber ihn, dann war er wieder ein redliches Gem�t. Aber ich will dazwischen fahren! Ich will zeigen, wer Herr im Hause ist. Du, Barbara, marsch hinein in die Kammer! Sie aber, Herr, machen Sie, da� Sie fortkommen, und verschonen uns k�nftig mit Ihren Besuchen. Hier wird kein Almosen gereicht. – Vater, sagte das M�dchen, seid[178] nicht hart gegen ihn, er ist ja doch ungl�cklich genug. – Eben darum, rief der Alte, will ichs nicht auch werden. Das, Herr, fuhr er fort, indem er auf den Brief zeigte, den Barbara vorher auf den Tisch geworfen hatte, das ist ein Mann! Hat Gr�tz im Kopfe und Geld im Sack. Betr�gt niemanden, l��t sich aber auch nicht betr�gen; und das ist die Hauptsache bei der Ehrlichkeit. – Ich stotterte, da� der Verlust der Kaution noch nicht gewi� sei. – Ja, rief er, wird ein Narr gewesen sein, der Sekretarius! Ein Schelm ist er, aber pfiffig. Und nun gehen Sie nur rasch, vielleicht holen Sie ihn noch ein! Dabei hatte er mir die flache Hand auf die Schulter gelegt und schob mich gegen die T�re. Ich wich dem Drucke seitw�rts aus und wendete mich gegen das M�dchen, die, auf den Ladentisch gest�tzt, dastand, die Augen auf den Boden gerichtet, wobei die Brust heftig auf und niederging. Ich wollte mich ihr n�hern, aber sie stie� zornig mit dem Fu�e auf den Boden, und als ich meine Hand ausstreckte, zuckte sie mit der ihren halb empor, als ob sie mich wieder schlagen wollte. Da ging ich, und der Alte schlo� die T�re hinter mir zu.

Ich wankte durch die Stra�en zum Tor hinaus, ins Feld. Manchmal fiel mich die Verzweiflung an, dann kam aber wieder Hoffnung. Ich erinnerte mich, bei Anlegung der Kaution den Sekret�r zum Handelsgericht begleitet zu haben. Dort hatte ich unter dem Torwege gewartet, und er war allein hinaufgegangen. Als er herabkam, sagte er, alles sei berichtigt, der Empfangsschein werde mir ins Haus geschickt werden. Letzteres war freilich nicht geschehen, aber M�glichkeit blieb noch immer. Mit anbrechendem Tage kam ich zur Stadt zur�ck. Mein erster Gang war in die Wohnung des Sekret�rs. Aber die Leute lachten und fragten, ob ich die Zeitungen nicht gelesen h�tte? Das Handelsgericht lag nur wenige H�user davon ab. Ich lie� in den B�chern nachschlagen, aber weder sein Name noch meiner kamen darin vor. Von einer Einzahlung keine Spur. So war denn mein Ungl�ck gewi�. Ja, beinahe w�re es noch schlimmer gekommen. Denn da ein Gesellschaftskontrakt bestand, wollten mehrere seiner Gl�ubiger auf meine Person greifen. Aber die Gerichte gaben es nicht zu. Lob und Dank sei ihnen daf�r gesagt! Obwohl es auf eines herausgekommen w�re.

In all diesen Widerw�rtigkeiten war mir, gestehe ichs nur, der[179] Griesler und seine Tochter ganz in den Hintergrund getreten. Nun da es ruhiger wurde und ich anfing zu �berlegen, was etwa weiter geschehen sollte, kam mir die Erinnerung an den letzten Abend lebhaft zur�ck. Den Alten, eigenn�tzig, wie er war, begriff ich ganz wohl, aber das M�dchen. Manchmal kam mir in den Sinn, da�, wenn ich das Meinige zu Rate gehalten und ihr eine Versorgung h�tte anbieten k�nnen, sie wohl gar – Aber sie h�tte mich nicht gemocht.� – Dabei besah er mit auseinanderfallenden H�nden seine ganze d�rftige Gestalt. – �Auch war ihr mein h�fliches Benehmen gegen jedermann immer zuwider.

So verbrachte ich ganze Tage, sann und �berlegte. Eines Abends im Zwielicht – es war die Zeit, die ich gew�hnlich im Laden zuzubringen pflegte – sa� ich wieder und versetzte mich in Gedanken an die gewohnte Stelle. Ich h�rte sie sprechen, auf mich schm�hen, ja es schien, sie verlachten mich. Da raschelte es pl�tzlich an der T�re, sie ging auf, und ein Frauenzimmer trat herein. – Es war Barbara. – Ich sa� auf meinem Stuhl angenagelt, als ob ich ein Gespenst s�he. Sie war bla� und trug ein B�ndel unter dem Arme. In die Mitte des Zimmers gekommen, blieb sie stehen, sah rings an den kahlen W�nden umher, dann nach abw�rts auf das �rmliche Ger�te und seufzte tief. Dann ging sie an den Schrank, der zur Seite an der Mauer stand, wickelte ihr Packet auseinander, das einige Hemden und T�cher enthielt – sie hatte in der letzten Zeit meine W�sche besorgt – zog die Schublade heraus, schlug die H�nde zusammen, als sie den sp�rlichen Inhalt sah, fing aber gleich darauf an, die W�sche in Ordnung zu bringen und die mitgebrachten St�cke einzureihen. Darauf trat sie ein paar Schritte vom Schranke hinweg, und die Augen auf mich gerichtet, wobei sie mit dem Finger auf die offene Schublade zeigte, sagte sie: F�nf Hemden und drei T�cher. So viel habe ich gehabt, so viel bringe ich zur�ck. Dann dr�ckte sie langsam die Schub lade zu, st�tzte sich mit der Hand auf den Schrank und fing laut an zu weinen. Es schien fast, als ob ihr schlimm w�rde, denn sie setzte sich auf einen Stuhl neben dem Schranke, verbarg das Gesicht in ihr Tuch, und ich h�rte aus den sto�weise geholten Atemz�gen, da� sie noch immer fortweinte. Ich war leise in ihre N�he getreten und fa�te ihre Hand, die sie mir gutwillig lie�. Als ich aber, um ihre Blicke auf mich zu ziehen, an dem schlaff h�ngenden[180] Arme bis zum Ellbogen emporr�ckte, stand sie rasch auf, machte ihre Hand los und sagte in gefa�tem Tone: Was n�tzt das alles? es ist nun einmal so. Sie haben es selbst gewollt, sich und uns haben Sie ungl�cklich gemacht; aber freilich sich selbst am meisten. Eigentlich verdienen Sie kein Mitleid – hier wurde sie immer heftiger – wenn man so schwach ist, seine eigenen Sachen nicht in Ordnung halten zu k�nnen; so leichtgl�ubig, da� man jedem traut, gleichviel ob es ein Spitzbube ist oder ein ehrlicher Mann. – Und doch tuts mir leid um Sie. Ich bin gekommen, um Abschied zu nehmen. Ja, erschrecken Sie nur. Ists doch ihr Werk. Ich mu� nun hinaus unter die groben Leute, wogegen ich mich so lange gestr�ubt habe. Aber da ist kein Mittel. Die Hand habe ich Ihnen schon gegeben, und so leben Sie wohl – f�r immer. Ich sah, da� ihr die Tr�nen wieder ins Auge traten, aber sie sch�ttelte unwillig mit dem Kopfe und ging. Mir war, als h�tte ich Blei in den Gliedern. Gegen die T�re gekommen, wendete sie sich noch einmal um und sagte: Die W�sche ist jetzt in Ordnung. Sehen Sie zu, da� nichts abgeht. Es werden harte Zeiten kommen. Und nun hob sie die Hand auf, machte wie ein Kreuzeszeichen in die Luft und rief: Gott mit dir, Jakob! – In alle Ewigkeit, Amen! setzte sie leiser hinzu und ging.

Nun erst kam mir der Gebrauch meiner Glieder zur�ck. Ich eilte ihr nach, und auf dem Treppenabsatze stehend, rief ich ihr nach: Barbara! Ich h�rte, da� sie auf der Stiege stehen blieb. Wie ich aber die erste Stufe hinabstieg, sprach sie von unten herauf: Bleiben Sie! und ging die Treppe vollends hinab und zum Tore hinaus.

Ich habe seitdem harte Tage erlebt, keinen aber wie diesen; selbst der darauf folgende war es minder. Ich wu�te n�mlich doch nicht so recht, wie ich daran war, und schlich daher am kommenden Morgen in der N�he des Grieslerladens herum, ob mir vielleicht einige Aufkl�rung wurde. Da sich aber nichts zeigte, blickte ich endlich seitw�rts in den Laden hinein und sah eine fremde Frau, die abwog und Geld herausgab und zuz�hlte. Ich wagte mich hinein und fragte, ob sie den Laden an sich gekauft h�tte; Zur Zeit noch nicht, sagte sie. – Und wo die Eigent�mer W�ren? – Die sind heute fr�hmorgens nach Langenlebarn gereist. Die Tochter auch? stammelte ich. – Nun freilich auch, sagte sie, sie macht ja Hochzeit dort.[181]

Die Frau mochte mir nun alles erz�hlt haben, was ich in der Folge von andern Leuten erfuhr. Der Fleischer des genannten Ortes n�mlich – derselbe, den ich zur Zeit meines ersten Besuches im Laden antraf – hatte dem M�dchen seit lange Heiratsantr�ge gemacht, denen sie immer auswich, bis sie endlich in den letzten Tagen, von ihrem Vater gedr�ngt und an allem ihrigen verzweifelnd, einwilligte. Desselben Morgens waren Vater und Tochter dahin abgereist, und in dem Augenblick, da wir sprachen, war Barbara des Fleischers Frau.

Die Verk�uferin mochte mir, wie gesagt, das alles erz�hlt haben, aber ich h�rte nicht und stand regungslos, bis endlich Kunden kamen, die mich zur Seite schoben, und die Frau mich anfuhr, ob ich noch sonst etwas wollte, worauf ich mich entfernte.

Sie werden glauben, verehrtester Herr�, fuhr er fort, �da� ich mich nun als den ungl�cklichsten aller Menschen f�hlte. Und so war es auch im ersten Augenblicke. Als ich aber aus dem Laden heraustrat und, mich umwendend, auf die kleinen Fenster zur�ckblickte, an denen Barbara gewi� oft gestanden und herausgesehen hatte, da kam eine selige Empfindung �ber mich. Da� sie nun alles Kummers los war, Frau im eigenen Hause, und nicht n�tig hatte, wie wenn sie ihre Tage an einen Herd- und Heimatlosen gekn�pft h�tte, Kummer und Elend zu tragen, das legte sich wie ein lindernder Balsam auf meine Brust, und ich segnete sie und ihre Wege.

Wie es nun mit mir immer mehr herabkam, beschlo� ich, durch Musik mein Fortkommen zu suchen; und solange der Rest meines Geldes w�hrte, �bte und studierte ich mir die Werke gro�er Meister, vorz�glich der alten, ein, welche ich abschrieb; und als nun der letzte Groschen ausgegeben war, schickte ich mich an, von meinen Kenntnissen Vorteil zu ziehen, und zwar anfangs in geschlossenen Gesellschaften, wozu ein Gastgebot im Hause meiner Mietfrau den ersten Anla� gab. Als aber die von mir vorgetragenen Kompositionen dort keinen Anklang fanden, stellte ich mich in die H�fe der H�user, da unter so vielen Bewohnern doch einige sein mochten, die das Ernste zu sch�tzen wu�ten – ja endlich auf die �ffentlichen Spazierg�nge, wo ich denn wirklich die Befriedigung hatte, da� einzelne stehen blieben, zuh�rten, mich befragten und nicht ohne Anteil weitergingen.[182] Da� sie mir dabei Geld hinlegten, besch�mte mich nicht. Denn einmal war gerade das mein Zweck, dann sah ich auch, da� ber�hmte Virtuosen, welche erreicht zu haben ich mir nicht schmeicheln konnte, sich f�r ihre Leistungen, und mitunter sehr hoch, honorieren lie�en. So habe ich mich, obzwar �rmlich, aber redlich fortgebracht bis diesen Tag.

Nach Jahren sollte mir noch ein Gl�ck zuteil werden. Barbara kam zur�ck. Ihr Mann hatte Geld verdient und ein Fleischhauergewerbe in einer der Vorst�dte an sich gebracht. Sie war Mutter von zwei Kindern, von denen das �lteste Jakob hei�t, wie ich. Meine Berufsgesch�fte und die Erinnerung an alte Zeiten erlaubten mir nicht, zudringlich zu sein, endlich ward ich aber selbst ins Haus bestellt, um dem �ltesten Knaben Unterricht auf der Violine zu geben. Er hat zwar nur wenig Talent, kann auch nur an Sonntagen spielen, da ihn in der Woche der Vater beim Gesch�ft verwendet, aber Barbaras Lied, das ich ihn gelehrt, geht doch schon recht gut; und wenn wir so �ben und hantieren, singt manchmal die Mutter mit darein. Sie hat sich zwar sehr ver�ndert in den vielen Jahren, ist stark geworden und k�mmert sich wenig mehr um Musik, aber es klingt noch immer so h�bsch wie damals.� Und damit ergriff der Alte seine Geige und fing an, das Lied zu spielen, und spielte fort und fort, ohne sich weiter um mich zu k�mmern. Endlich hatte ichs satt, stand auf, legte ein paar Silberst�cke auf den nebenstehenden Tisch und ging, w�hrend der Alte eifrig immer fortgeigte.

Bald darauf trat ich eine Reise an, von der ich erst mit einbrechendem Winter zur�ckkam. Die neuen Bilder hatten die alten verdr�ngt, und mein Spielmann war so ziemlich vergessen. Erst bei Gelegenheit des furchtbaren Eisganges im n�chsten Fr�hjahre und der damit in Verbindung stehenden �berschwemmung der niedrig gelegenen Vorst�dte erinnerte ich mich wieder an ihn. Die Umgegend der G�rtnergasse war zum See geworden. F�r des alten Mannes Leben schien nichts zu besorgen, wohnte er doch hoch oben am Dache, indes unter den Bewohnern der Erdgescho�e sich der Tod seine nur zu h�ufigen Opfer ausersehen hatte. Aber entbl��t von aller Hilfe, wie gro� mochte seine Not sein! Solange die �berschwemmung w�hrte, war nichts zu tun, auch hatten die Beh�rden nach M�glichkeit auf Schiffen Nahrung[183] und Beistand den Abgeschnittenen gespendet. Als aber die Wasser verlaufen und die Stra�en gangbar geworden waren, beschlo� ich, meinen Anteil an der in Gang gebrachten, zu unglaublichen Summen angewachsenen Kollekte pers�nlich an die mich zun�chst angehende Adresse zu bef�rdern.

Der Anblick der Leopoldstadt war grauenhaft. In den Stra�en zerbrochene Schiffe und Ger�tschaften, in den Erdgescho�en zum Teil noch stehendes Wasser und schwimmende Habe. Als ich, dem Gedr�nge ausweichend, an ein zugelehntes Hoftor hintrat, gab dieses nach und zeigte im Torwege eine Reihe von Leichen, offenbar behufs der amtlichen Inspektion zusammengebracht und hingelegt; ja, im Innern der Gem�cher waren noch hie und da, aufrechtstehend und an die Gitterfenster angekrallt, verungl�ckte Bewohner zu sehen, die – es fehlte eben an Zeit und Beamten, die gerichtliche Konstatierung so vieler Todesf�lle vorzunehmen.

So schritt ich weiter und weiter. Von allen Seiten Weinen und Trauergel�ute, suchende M�tter und irregehende Kinder. Endlich kam ich an die G�rtnergasse. Auch dort hatten sich die schwarzen Begleiter eines Leichenzuges aufgestellt, doch, wie es schien, entfernt von dem Hause, das ich suchte. Als ich aber n�her trat, bemerkte ich wohl eine Verbindung von Anstalten und Hin- und Hergehenden zwischen dem Trauergeleite und der G�rtnerswohnung. Am Haustor stand ein wacker aussehender, �ltlicher, aber noch kr�ftiger Mann. In hohen Stiefeln, gelben Lederhosen und langherabgehendem Leibrocke sah er einem Landfleischer �hnlich. Er gab Auftr�ge, sprach aber dazwischen ziemlich gleichg�ltig mit den Nebenstehenden. Ich ging an ihm vorbei und trat in den Hofraum. Die alte G�rtnerin kam mir entgegen, erkannte mich auf der Stelle wieder und begr��te mich unter Tr�nen. �Geben Sie uns auch die Ehre?� sagte sie. �Ja, unser armer Alter! der musiziert jetzt mit den lieben Engeln, die auch nicht viel besser sein k�nnen, als er es war. Die ehrliche Seele sa� da oben sicher in seiner Kammer. Als aber das Wasser kam und er die Kinder schreien h�rte, da sprang er herunter und rettete und schleppte und trug und brachte in Sicherheit, da� ihm der Atem ging wie ein Schmiedegebl�s. Ja – wie man denn nicht �berall seine Augen haben kann – als sich ganz zuletzt zeigte, da� mein[184] Mann seine Steuerb�cher und die paar Gulden Papiergeld im Wandschrank vergessen hatte, nahm der Alte ein Beil, ging ins Wasser, das ihm schon an die Brust reichte, erbrach den Schrank und brachte alles treulich. Da hatte er sich wohl verk�ltet, und wie im ersten Augenblicke denn keine Hilfe zu haben war, griff er in die Phantasie und wurde immer schlechter, ob wir ihm gleich beistanden nach M�glichkeit und mehr dabei litten, als er selbst. Denn er musizierte in einem fort, mit der Stimme n�mlich, und schlug den Takt und gab Lektionen. Als sich das Wasser ein wenig verlaufen hatte und wir den Bader holen konnten und den Geistlichen, richtete er sich pl�tzlich im Bette auf, wendete Kopf und Ohr seitw�rts, als ob er in der Entfernung etwas gar Sch�nes h�rte, l�chelte, sank zur�ck und war tot. Gehen Sie nur hinauf, er hat oft von Ihnen gesprochen. Die Madame ist auch oben. Wir haben ihn auf unsere Kosten begraben lassen wollen, die Frau Fleischermeisterin gab es aber nicht zu.�

Sie dr�ngte mich die steile Treppe hinauf bis zur Dachstube, die offen stand und ganz ausger�umt war bis auf den Sarg in der Mitte, der, bereits geschlossen, nur der Tr�ger wartete. An dem Kopfende sa� eine ziemlich starke Frau, �ber die H�lfte des Lebens hinaus, im buntgedruckten Kattun�berrocke, aber mit schwarzem Halstuch und schwarzem Band auf der Haube. Es schien fast, als ob sie nie sch�n gewesen sein konnte. Vor ihr standen zwei ziemlich erwachsene Kinder, ein Bursche und ein M�dchen, denen sie offenbar Unterricht gab, wie sie sich beim Leichenzuge zu benehmen h�tten. Eben, als ich eintrat, stie� sie dem Knaben, der sich ziemlich t�lpisch auf den Sarg gelehnt hatte, den Arm herunter und gl�ttete sorgf�ltig die herausstehenden Kanten des Leichentuches wieder zurecht. Die G�rtnersfrau f�hrte mich vor; da fingen aber unten die Posaunen an zu blasen, und zugleich erscholl die Stimme des Fleischers von der Stra�e herauf: Barbara, es ist Zeit! Die Tr�ger erschienen, ich zog mich zur�ck, um Platz zu machen. Der Sarg ward erhoben, hinabgebracht, und der Zug setzte sich in Bewegung. Voraus die Schuljugend mit Kreuz und Fahne, der Geistliche mit dem Kirchendiener. Unmittelbar nach dem Sarge die beiden Kinder des Fleischers und hinter ihnen das Ehepaar. Der Mann bewegte unausgesetzt, als in Andacht, die Lippen, sah aber dabei links und rechts um sich.[185] Die Frau las eifrig in ihrem Gebetbuche, nur machten ihr die beiden Kinder zu schaffen, die sie einmal vorschob, dann wieder zur�ckhielt, wie ihr denn �berhaupt die Ordnung des Leichenzuges sehr am Herzen zu liegen schien. Immer aber kehrte sie wieder zu ihrem Buche zur�ck. So kam das Geleite zum Friedhof. Das Grab war ge�ffnet. Die Kinder warfen die ersten Handvoll Erde hinab. Der Mann tat stehend dasselbe. Die Frau kniete und hielt ihr Buch nahe an die Augen. Die Totengr�ber vollendeten ihr Gesch�ft, und der Zug, halb aufgel�st, kehrte zur�ck. An der T�re gab es noch einen kleinen Wortwechsel, da die Frau eine Forderung des Leichenbesorgers offenbar zu hoch fand. Die Begleiter zerstreuten sich nach allen Richtungen. Der alte Spielmann war begraben.

Ein paar Tage darauf – es war ein Sonntag – ging ich, von meiner psychologischen Neugierde getrieben, in die Wohnung des Fleischers und nahm zum Vorwande, da� ich die Geige des Alten als Andenken zu besitzen w�nschte. Ich fand die Familie beisammen, ohne Spur eines zur�ckgebliebenen besondern Eindrucks. Doch hing die Geige mit einer Art Symmetrie geordnet neben dem Spiegel, einem Kruzifix gegen�ber, an der Wand. Als ich mein Anliegen erkl�rte und einen verh�ltnism��ig hohen Preis anbot, schien der Mann nicht abgeneigt, ein vorteilhaftes Gesch�ft zu machen. Die Frau aber fuhr vom Stuhle empor und sagte: �Warum nicht gar! Die Geige geh�rt unserem Jakob, und auf ein paar Gulden mehr oder weniger kommt es uns nicht an!� Dabei nahm sie das Instrument von der Wand, besah es von allen Seiten, blies den Staub herab und legte es in die Schublade, die sie, wie einen Raub bef�rchtend, heftig zustie� und abschlo�. Ihr Gesicht war dabei von mir abgewandt, so da� ich nicht sehen konnte, was etwa darauf vorging. Da nun zu gleicher Zeit die Magd mit der Suppe eintrat und der Fleischer, ohne sich durch den Besuch st�ren zu lassen, mit lauter Stimme sein Tischgebet anhob, in das die Kinder gellend einstimmten, w�nschte ich gesegnete Mahlzeit und ging zur T�re hinaus. Mein letzter Blick traf die Frau. Sie hatte sich umgewendet, und die Tr�nen liefen ihr stromweise �ber die Backen.

Quelle:
Franz Grillparzer: S�mtliche Werke.Band 3, M�nchen [1960–1965], S. 146-186.
Entstanden 1831 und 1842, Erstdruck in: Iris. Deutscher Almanach f�r 1848, hg. v. Johann Grafen Majlath, Pest 1847.
Lizenz:
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